Tübingen/Stuttgart

Datenschutz: Aus für Palmers Liste

Tübingen darf keine Daten über auffällige Flüchtlinge mehr austauschen. Damit endet ein langer Streit zwischen dem OB und dem Landesbeauftragten.

06.10.2020

Von Roland Müller

Stefan Brink, der Datenschutzbeauftragte des Landes Baden-Württemberg. Foto: Larissa Schwedes/dpa

Stefan Brink, der Datenschutzbeauftragte des Landes Baden-Württemberg. Foto: Larissa Schwedes/dpa

Als der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) im Januar 2019 bekanntgab, auffällige Asylbewerber in der Stadt auf einer „Liste“ zu führen, zuckte der eine oder andere zusammen: Kann man so etwas machen? Eine mögliche städtische Sanktion brachte Palmer auch gleich ins Spiel: Wer polizeilich in Erscheinung trete, solle „zunehmend öfter“ in ein Wohnheim mit Sicherheitsdienst verlegt werden. Die kleine Gruppe junger Asylbewerber, die immer wieder Ärger mache, bringe die große Mehrheit jener, die sich um Integration bemühten, in Verruf, argumentiert Palmer seit langem.

Unter denen, die angesichts der Nachricht aufmerkten, waren nicht nur Flüchtlingshelfer und Palmer-Kritiker – sondern auch der Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit, Stefan Brink. Der Jurist schickte der Stadt Tübingen einen ausführlichen Katalog mit datenschutzrechtlichen Fragen zur „Liste der Auffälligen“. Es folgte ein monatelanges Hin und Her zwischen Palmer und Brink, bei dem alsbald klar wurde, dass die inhaltlichen Positionen sehr unterschiedlich, die Neigung, nachzugeben hingegen bei beiden Kontrahenten ganz ähnlich ausgeprägt ist – nämlich gar nicht. Palmer beschwerte sich bei Innenminister Thomas Strobl (CDU) über Brinks Insistieren, dieser rügte in seinem Tätigkeitsbericht die Verweigerungshaltung der Stadt und sprach von „absurden“ Vorwürfen Palmers.

Das Ergebnis dieses Konflikts liegt nun vor: In einer Entscheidung des Datenschutzbeauftragten untersagt er der Stadt Tübingen, „persönliche Daten, die ihrer Ausländerbehörde von einer Strafverfolgungsbehörde (...) übermittelt wurden, für andere Zwecke, insbesondere im Rahmen eines ,strukturierten Informationsaustauschs' und für das Führen einer ,Liste mit auffälligen Asylbewerbern' zu verarbeiten“, wie es in dem Schreiben heißt. Die Daten in der Liste selbst seien außerdem zu löschen.

Kritik an Blockadehaltung

Brink schreibt, die Stadt Tübingen habe sich im gesamten Verfahrenslauf alles andere als kooperativ gezeigt: Informationen seien spärlich, mit großer Verzögerung und teils „inhaltsarm“ geflossen, versprochene Unterlagen nicht übersandt worden. Begründet wird das Verbot mit datenschutzrechtlichen Grundsätzen, mit denen das Tübinger Vorgehen nicht vereinbar sei. Brink verweist auf die „strenge Zweckbindung“ für Daten, die bei polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen erhoben wurden. Wenn solche Informationen der städtischen Ausländerbehörde zugingen, gelte diese Zweckbindung weiter, die Daten dürften nicht, wie in Tübingen praktiziert, in einer Excel-Tabelle mit anderen städtischen Behörden geteilt werden.

Ausnahmen seien nur zur Abwehr konkreter Gefahren zulässig – etwa, wenn es bereits Angriffe auf Mitarbeiter gegeben habe. „Allenfalls dann, wenn ein Asylbewerber konkret durch entsprechendes Vorgehen gegen Behördenmitarbeiter aufgefallen wäre, würde dies seine Speicherung zu dem angeführten Zweck rechtfertigen“, schreibt Brink.

Der Tübinger OB Boris Palmer. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Der Tübinger OB Boris Palmer. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Palmer hatte zur Rechtfertigung der „Liste“ unter anderem den Schutz von Behördenmitarbeitern genannt. „Wie soll ich als Oberbürgermeister es vertreten, Beschäftigte ahnungslos und ohne Sicherheitsvorkehrungen in ein Büro mit einem gewaltbereiten und bewaffneten Mann zu schicken?“, sagte Palmer unserer Zeitung. Außerdem diene die Liste dem Zwecke der Sozialarbeit. „Nach meiner Überzeugung ist damit für niemand etwas gewonnen, schon gar nicht für Asylbewerber, die auf einer schiefen Bahn sind und dringend ein Stopsignal bräuchten, bevor es zu wirklich schweren Straftaten kommt.“ Gezielte Sozialarbeit zur Verhinderung von Straftaten sei aber nicht möglich, wenn die Polizei Informationen gar nicht weitergeben dürfe.

Brink hingegen verweist auf die „gravierende Diskriminierungswirkung“ der Liste. Auch seien die Kriterien, mit denen die Stadt eine Gefährlichkeit eines Asylbewerbers annimmt, „völlig unklar“ und „intransparent“.

Palmer kündigte an, der Anweisung Folge zu leisten und nicht vors Verwaltungsgericht zu ziehen. Stattdessen fordert der OB von der Bundesregierung, „eine Rechtsgrundlage für die Zusammenarbeit von Sicherheitsbehörden und Sozialarbeit zu schaffen.“ Die Entscheidung des Datenschutzbeauftragten gehe an der Realität vorbei und sei „behördlich verordnete Schizophrenie. Ein und dieselbe Person muss vergessen, was sie in anderer Funktion weiß.“ Der Datenschutz werde so zum Täterschutz.

Außerdem fühlt sich Palmer ungerecht am Pranger: Viele öffentliche Behörden führten Informationen ganz ähnlich zusammen wie seine Stadtverwaltung. „Der Grund für die Intervention gegenüber Tübingen ist nur, dass wir transparent und öffentlich gesagt haben, was wir machen.“

Beschwerdestelle für Bürger und Bürgerinnen

Seit Januar 2017 ist Stefan Brink Landesbeauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit. Er ist vom Landtag für die Dauer von sechs Jahren gewählt. Brink geht mit seiner Behörde Beschwerden von Bürgerinnen und Bürgern über Behörden und Unternehmen nach.

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Erstellt:
06.10.2020, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 08sec
zuletzt aktualisiert: 06.10.2020, 06:00 Uhr

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