Bundestagswahl

Die SPD auf der Scholz-Welle

Die SPD im Südwesten ist Kummer gewohnt. Nun geht der Trend steil nach oben: Direktmandate sind in Reichweite, Listenkandidaten können hoffen. Was macht das mit den Bewerbern?

22.09.2021

Von Jens Schmitz

„Ich möcht's noch nicht so richtig glauben, vielleicht ein bisschen aus Selbstschutz.“ Urs Abelein kandidiert im Wahlkreis Waiblingen. Foto: Honorarfrei

„Ich möcht's noch nicht so richtig glauben, vielleicht ein bisschen aus Selbstschutz.“ Urs Abelein kandidiert im Wahlkreis Waiblingen. Foto: Honorarfrei

Esslingen. Wer hätte das gedacht? Vor der Bundestagswahl liegt die SPD in Umfragen so weit vorn wie seit 2001 nicht mehr. Im Windschatten der Zustimmungswerte von Olaf Scholz darf die Landes-Partei sich Hoffnung auf eine ungeahnte Zahl von Bundestagsmandaten machen.

„Als ich meinen Namen in den Ring geworfen habe“, sagt Argyri Paraschaki, „da war das überhaupt nicht absehbar. Das war ja letztes Jahr.“ Die 44-jährige Geschäftsführerin belegt auf der SPD-Landesliste den aussichtslosen Platz 31 von 36. Jetzt steht sie auf dem gut besuchten Marktplatz ihrer Heimatgemeinde Esslingen in der Herbstsonne und lauscht dem Kanzlerkandidaten ihrer Partei. „Großartiger Ort, da kann man sich überhaupt nicht beschweren“, lobt Olaf Scholz. „Und eine sehr, sehr gute Stimmung.“

Plötzlich Rückenwind

Beschweren kann sich auch Paraschaki nicht. Das SPD-Umfragehoch hat sie in ihrem Wahlkreis auf Platz eins getragen; sie hat realistische Chancen auf ein Direktmandat. „Es hat auch am Anfang Spaß gemacht, als es nicht absehbar war“, sagt sie über den Wahlkampf. „Aber jetzt ist natürlich ein Rückenwind da, und die Rückmeldungen an den Infoständen sind so positiv, dass man das Gefühl hat, alle wählen die SPD.“ Ein ungewohntes Gefühl für die zuletzt glücklosen Südwest-Genossen. Paraschaki lächelt. „Das macht natürlich Spaß, weil die Menschen anhalten, sich Zeit nehmen, zuhören. Es finden ganz tolle Gespräche statt.“

Gute Stimmung rund um Scholz: Der SPD-Kanzlerkandidat ist ein begehrtes Foto-Objekt auf dem Esslinger Marktplatz. Von dem Rückenwind profitieren auch viele Kandidaten im Südwesten. Foto: Bernd Weißbrod

Gute Stimmung rund um Scholz: Der SPD-Kanzlerkandidat ist ein begehrtes Foto-Objekt auf dem Esslinger Marktplatz. Von dem Rückenwind profitieren auch viele Kandidaten im Südwesten. Foto: Bernd Weißbrod

Bei der bislang letzten Bundestagswahl 2017 gewann die CDU alle 38 Direktmandate im Land. Der Webseite wahlkreisprognose.de zufolge lag die SPD bis Sonntag in vier Wahlkreisen zwischen sechs und zwölf Prozentpunkte vorn, nämlich in Waldshut, Emmendingen-Lahr, Heilbronn und Mannheim. In Rhein-Neckar und Waiblingen betrug der Vorsprung zwischen drei und sechs Prozentpunkte, in acht weiteren bis zu drei.

Zu letzteren gehörte auch Calw, der Wahlkreis der Bundesparteivorsitzenden Saskia Esken. Seit 1949 ist er immer an die CDU gegangen. Das Rennen ist freilich noch offen: Die Union gewann zuletzt in mehreren von der SPD dominierten Wahlkreisen die Umfragehoheit zurück oder holte zumindest auf. Dass es so knapp werden könnte, hatte vor ein paar Monaten aber kaum jemand für möglich gehalten.

„Ich habe nicht damit gerechnet, aber jetzt sieht es tatsächlich so aus, als könnte ich reinrutschen.“ Lucia Schanbacher tritt in Stuttgart an und könnte über die Liste in den Bundestag einziehen. Foto: Franziska Kraufmann

„Ich habe nicht damit gerechnet, aber jetzt sieht es tatsächlich so aus, als könnte ich reinrutschen.“ Lucia Schanbacher tritt in Stuttgart an und könnte über die Liste in den Bundestag einziehen. Foto: Franziska Kraufmann

Gekämpft wird auch dort, wo man knapp hinter den Christdemokraten oder den Grünen liegt. „In ziemlich vielen Wahlkreisen bietet sich die Chance, dass es sehr eng zugeht“, sagt SPD-Landesvorsitzender Andreas Stoch. „Überall, wo ich vor Ort bin, sind die Leute, die dort kandidieren, topmotiviert, auch wenn sie keinen so guten Listenplatz haben – weil sie eine Chance haben, das Direktmandat zu holen.“

Ein Paradebeispiel ist der 30-jährige Urs Abelein im Wahlkreis Waiblingen. Auf der Landesliste sollte er als Erstbewerber ursprünglich auf dem letzten Platz landen. Weil er fürchtete, dass ihm das als Stigma ausgelegt werden könnte, verzichtete er komplett auf die Liste und warf seinen Hut als Direktkandidat in den Ring. „Ich habe mir damals keine Chance ausgerechnet“, gesteht er.

Das Waiblinger Gemeinderatsmitglied wollte zunächst seinen Bekanntheitsgrad ausbauen. In seinem Job als Ingenieur für erneuerbare Energien ließ er sich unbezahlt freistellen, um sich voll dem Wahlkampf widmen zu können. „Da gab es genügend Ablehnung nach dem Motto: Ihr habt doch eh keine Chance, was machen Sie sich die Arbeit?“, berichtet Abelein. Im August sei irgendwann eine Wende spürbar geworden. „Erst lag ich vier Prozent vorne, dann sogar sechs Prozent. Ich möcht's noch nicht so richtig glauben, vielleicht auch ein bisschen aus Selbstschutz, damit man nicht zu enttäuscht ist. Aber es ist auf jeden Fall eine ganz starke Motivation.“

„Die Rückmeldungen an Infoständen sind so positiv, dass man das Gefühl hat, alle wählen die SPD. Argyri Paraschaki ist Kandidatin im Wahlkreis Esslingen. Foto: Tom Weller/dpa

„Die Rückmeldungen an Infoständen sind so positiv, dass man das Gefühl hat, alle wählen die SPD. Argyri Paraschaki ist Kandidatin im Wahlkreis Esslingen. Foto: Tom Weller/dpa

Für viele, die einen Listenplatz haben, stellt sich die Lage ebenfalls rosiger dar als erwartet. Als die Landes-Genossen im vergangenen Mai ihren pandemiebedingt verschobenen Nominierungsparteitag nachholten, habe man sich Hoffnungen auf zehn bis zwölf Südwest-Genossen im nächsten Bundestag gemacht, erinnert sich Stoch. „Mit den aktuellen Zahlen könnten das durchaus 20 werden – oder sogar noch einmal ein paar mehr.“

Mit reellen Chancen konfrontiert sieht sich deshalb auch Lucia Schanbacher. „Es wird ziemlich spannend“, sagt die 31-Jährige, die im Wahlkreis Stuttgart 1 als Nachfolgerin von Ute Vogt gegen etablierte Mandatsträger wie Cem Özdemir (Grüne), Stefan Kaufmann (CDU), Judith Skudelny (FDP), Bernd Riexinger (Linke) und Dirk Spaniel (AfD) antritt. Die Sozial- und Politikwissenschaftlerin sitzt seit 2019 im Stuttgarter Gemeinderat und errang bei ihrer Nominierung Listenplatz 23. Sie machte sich keine Hoffnungen. „Ich habe auf jeden Fall nicht damit gerechnet“, sagt sie und lacht. „Jetzt sieht es tatsächlich so aus, als könnte ich reinrutschen.“

Ist es für Menschen, die im Südwesten seit Jahren für SPD-Inhalte kämpfen, nicht auch frustrierend, ihre Abhängigkeit von der Bundes-Stimmung so deutlich vor Augen geführt zu bekommen? „Ich würde mir manchmal wünschen, wir hätten jetzt Landtagswahl, dann würde wahrscheinlich manches anders aussehen“, räumt Landes- und Landtagsfraktions-Chef Stoch ein. Allerdings sei der Landtags-Wahlkampf im März noch sehr von Corona geprägt gewesen und gegen einen beliebten Amtsinhaber erfolgt. Die SPD trete geschlossen auf, habe ein gutes Programm und eine Person, die dazu passe. „Politik erfordert manchmal einen langen Atem.“