Spendenaktion des Schwäbischen Tagblatts

„Auch ich war ein Frühchen“

Lena Krönlein verbrachte die ersten fünf Monate ihres Lebens im Brutkasten. Jetzt besuchte sie fürs TAGBLATT die Frühchen-Station der Tübinger Kinderklinik.

21.12.2016

Von Lena Krönlein

Lena Krönlein mit Mayla. Das Frühchen wog bei der Geburt nur 550 Gramm. Bild: Sommer

Lena Krönlein mit Mayla. Das Frühchen wog bei der Geburt nur 550 Gramm. Bild: Sommer

Es ist still hier, obwohl doch ein reges Treiben herrscht. Menschen verlassen den Raum und betreten ihn wieder. Ab und an ist ein Piepsen zu hören, das mich kurz aufschrecken lässt. Ansonsten sind meine Sinne in diesem Augenblick voll und ganz auf das kleine Bündel gerichtet, das vor mir in seinem Wärmebettchen liegt. Mayla. Das zerbrechlich wirkende Wesen ist unter den vielen Decken und Lagerungshilfen, die auf und neben ihm liegen und seinen Kuscheltieren kaum zu erkennen. Nur die Ärmchen, die Mayla zur Seite streckt, lassen erahnen, dass ein Baby hier liegt. Ein sehr kleines Baby.

Mayla war ein Frühchen. Ich befinde mich in Begleitung von Dr. Rangmar Goelz in der Neonatologie der Universitätskinderklinik Tübingen, auf der Intensivstation. Goelz ist Leitender Oberarzt und stellvertretender Ärztlicher Direktor der Neonatologie.

Maylas Eltern haben uns erlaubt, ihrer Tochter einen Besuch abzustatten. Zuvor hat mir Herr Goelz den Erstversorgungsraum gezeigt, jenen Ort, an den die Babys direkt nach ihrer Geburt kommen, und der unmittelbar neben dem Kaiserschnitt-OP-Saal liegt. Er erklärt mir, wie die Erstversorgung eines Frühgeborenen aussehen muss. Hierbei kann es zu kritischen Situationen kommen, die erfolgreich bewältigt werden müssen. Mit einer Simulationspuppe könnten diese geübt werden, damit die Ärzte und Schwestern für den Ernstfall vorbereitet sind. Nur: Ein Frühchen ist viel winziger als alle Simulationspuppen, die es bisher gab. Durch die Weihnachtspendenaktion des TAGBLATTs hoffen die Ärzte und Schwestern, sich „Paulchen“ zulegen zu können, ein computergesteuertes Trainings-Modell, das in Größe und Gewicht die Maße eines sehr kleinen Frühchens hat (wir berichteten). Damit auch die Ankunft derjenigen, die es ganz eilig haben, auf die Welt zu kommen, trainiert werden kann.

Das kleine Wesen, das nun vor mir liegt, ist keine Puppe. Mayla lebt. Es fällt mir schwer, meinen Blick von diesem Wesen zu wenden, das in diesem Moment ein ähnliches Schicksal durchmacht wie ich es selbst vor 32 Jahren erlebt habe. Auch ich war ein Frühchen. Am 28. Juni 1984 erblickte ich das Licht der Welt, als meine Mutter in der 27. Woche schwanger war. 36 Zentimeter groß, 1050 Gramm schwer, war ich plötzlich viel zu früh da. „Zuckerpäckle“ hatte meine Oma mich immer genannt.

Auch Mayla hatte es sehr eilig, noch eiliger sogar als ich: Sie kam im Oktober diesen Jahres auf die Welt, als ihre Mutter in der 25. Schwangerschaftswoche „plus zwei Tage“ war, wie sie mir erzählt. Zum Zeitpunkt ihrer Geburt wog Mayla gerade einmal 550 Gramm. Inzwischen, berichten mir ihre Eltern stolz, sei sie schon bei 1600 Gramm und auf einem guten Weg.

Während des Gesprächs mit Maylas Eltern und Herrn Goelz kommen mir immer wieder Fragmente von Erzählungen meiner Eltern in den Sinn. Ich muss aufpassen, dass ich meine Geschichte nicht mit Maylas vermische. „War ich auch so schnell auf einem guten Weg?“, frage ich mich unwillkürlich und weiß im selben Moment die Antwort: Meine Überlebenschancen betrugen nur 50 Prozent. Die Ärzte konnten schwer voraussagen, welche Folgeschäden die Frühgeburt mit sich bringen würde.

Tatsächlich war meine Situation bei der Frühgeburt zu damaligen Zeiten viel kritischer als die von Mayla, erklärt Herr Goelz: „Die Medizin ist heute viel weiter.“ Die Ultraschalltechnologie etwa, ermögliche heute eine viel höhere Auflösung der Bilder des Gehirns, wodurch mögliche Folgeschäden viel präziser vorausgesagt werden könnten. In den Achtziger, erklärt Goelz „konnte man noch nicht so leicht eine Bildgebung vom Gehirn machen.“

Je länger wir uns in dem Raum aufhalten, desto mehr fühle ich mich Mayla verbunden. Als ihre Mutter ihre Hände auf den Rücken der Kleinen legt, muss ich den Impuls unterdrücken, es ihr gleichzutun.

Mayla braucht bei so vielen Dingen noch Unterstützung, die ich lange Zeit auch noch nicht selbst geschafft habe, wie etwa bei der Nahrungsaufnahme oder beim Atmen. Auch ihre Lunge kann noch nicht von alleine arbeiten. Manchmal, erzählt ihre Mutter, würde Mayla das Atmen kurz vergessen.

Fast im selben Moment höre ich die Stimme meiner Mutter in meinem Ohr: Du wurdest sechs Wochen im Inkubator beatmet, erzählte sie mir. Ich weiß, dass für meine Eltern der Zeitpunkt, als ich alleine atmen konnte – sechs Wochen nach der Geburt – der wichtigste Moment für sie war. Bis heute haben sie nicht den Tag vergessen, an dem ich zum ersten Mal geschrien habe. Ich wünsche Mayla so sehr, dass sie bald auch von alleine atmen kann. Im Moment ist ihr Körper noch an einen Monitor angeschlossen, der diese überlebenswichtigen Funktionen überwacht: Atmung, Sauerstoffsättigung, Herztätigkeit, Blutdruck und die Körpertemperatur. Auch letztere, erklärt Dr. Goelz, sei enorm wichtig für das Wachsen und Gedeihen des Kindes.

Gerade als ich fragen will, wie lange Mayla noch in der Klinik bleiben muss, liefert Herr Goelz mir die Antwort, als hätte er meine Gedanken gelesen: „In fünf bis sechs Wochen ist für Maylas Eltern die Welt anders.“ Auf Weihnachten wäre eine Entlassung noch zu früh. Aber Anfang Februar könne Mayla vermutlich schon nach Hause.

Nach Hause. Auch dieses Datum haben meine Eltern gespeichert. Am 14. November 1984 war ich nach fünf Monaten im Brutkasten endlich daheim. Sofort muss ich an meinen Bruder denken. Er war zwei Jahre alt, als ich geboren wurde.

Wie erklärt man einem so kleinen Kind, dass es eine Schwester hat, dass diese aber vielleicht nicht überlebt? Einfach war es für beide nicht. Für meine Eltern genauso wenig, wie für meinen Bruder, der nicht verstehen konnte, wieso die Lena nicht nach Hause kommt und die Mama in der Klinik ist.

Irgendwie haben sie zusammen diese lange Zeit gemeistert, in der ich noch eine Sepsis und einen Leistenbruch bekam. Zeitweise hatte ich zudem zu wenig Granulozyten, weswegen meine Eltern jeden Tag mit mir in die Klinik zur Blutuntersuchung gefahren sind. Dann, im März 1985, erhielten sie endlich die erlösende Nachricht, dass jetzt alles normal wäre.

Ich weiß gar nicht, wie lange es gedauert hat, bis für meine Eltern dann zuhause im Alltag auch wirklich alles normal verlief. Aber ich weiß aus Erzählungen, dass es schnell „einfach toll“ wurde, mit mir und mit meinem Bruder, der in kürzester Zeit für mich zum liebsten Spielgefährten wurde.

Die Ärzte sagten damals, dass ein Geschwisterchen das Beste sei, was einem Frühchen passieren könne.

Ich bin in diesem Moment meinen Eltern so dankbar dafür, dass es meinen Bruder gibt, dass ich Maylas Eltern unvermittelt frage, ob sie auch schon Geschwister hat. Ich kann mich kaum noch bremsen und erzähle von meiner Schwester, die zwei Jahre nach mir zur Welt kam und sage, wie bewundernswert und schön ich es finde, dass meine Eltern nach meiner doch sehr strapaziösen Geburt noch ein weiteres Kind wollten.

Mayla hat noch keine Geschwister, sie ist das erste Kind. Für einen Moment tut es mir leid, die jungen Eltern mit meiner Geschichte derart überschwemmt zu haben. Dann fällt mir wieder ein, dass dies doch eigentlich der Grund für meinen Besuch war. Ich wollte mir ansehen, wie der Weg für Frühchen aussieht, den ich nur aus Erzählungen kenne. Und vielleicht möchte ich den Eltern auch vermitteln, dass es sich lohnt zu kämpfen.

Auch wenn niemand am Anfang einer Frühgeburt sagen kann, wie dieser Kampf ausgeht. Es gebe immer wieder auch Frühchen, die die Kraft zum Leben nicht haben, erzählt mir Herr Goelz später, als wir nach dem Besuch bei Mayla in seinem Büro sitzen. „Manchmal kommen die Kinder in der 23. oder auch schon in der 22. Woche zur Welt. Dann müssen wir dies mit den Eltern sehr ehrlich besprechen, was auch die palliative Versorgung einschließt“, erklärt er mir.

Als ich die Klinik verlasse, fängt es draußen schon an zu dämmern. Ich registriere die weit fortgeschrittene Zeit kaum, dazu habe ich zu viele Gedanken und Eindrücke der letzten Stunden im Kopf.

Dieser Besuch hat mir einmal mehr vor Augen geführt, wie viel Glück ich hatte und wie viel Energie und Geduld meine Eltern aufgebracht haben, um mir das Leben leichter zu machen. Denn das verlief auch später in vielerlei Hinsicht nicht normal und brachte den einen oder anderen Kampf mit sich.

Und doch wurde irgendwie am Ende alles gut. Allerdings lernte ich erst mit sechs Jahren laufen – obwohl die Ärzte meinen Eltern prognostiziert hatten, dass sich bei mir körperlich alles normal entwickeln würde.

Wie viel Geduld braucht man, wenn dann doch nicht alles so schnell geht, wie erhofft? Maylas Eltern kommen mir wieder in den Sinn. Wie viel Geduld werden sie brauchen?

Irgendetwas in mir ist sich sicher, dass sie es schaffen werden. Vielleicht komme ich mal wieder vorbei. Um sie zu besuchen und um Mayla zu zeigen, dass am Ende alles gut werden kann.

Als Spätfolge der frühen Geburt ist Lena Krönlein gehbehindert und muss oft am Stock gehen. Die 32-Jährige hat in Tübingen Abitur gemacht und viele Jahr bei der TAGBLATT-Schülerredaktion „Flugplatz“ mitgemacht. Sie studierte zunächst Germanistik und Philosophie und anschließend im Fernstudium noch Public Relations. Heute lebt sie in Ammerbuch und arbeitet als freie Journalistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei den Tübinger Medienwissenschaften..

Lena Krönlein vor (viel zu großen) Simulationspuppe, mit der jetzt in der Klinik Notfälle geübt werden. Bild: Sommer

Lena Krönlein vor (viel zu großen) Simulationspuppe, mit der jetzt in der Klinik Notfälle geübt werden. Bild: Sommer

Wofür das TAGBLATT in diesem Jahr Weihnachtsspenden sammelt

Der heutigen Zeitung liegt ein Überweisungsträger bei. Sie können damit für die Weihnachtsspendenaktion des SCHWÄBISCHEN TAGBLATTS spenden. In diesem Jahr sammeln wir für die Stiftung „Hilfe für kranke Kinder“, die einen computergesteuerten Frühchen-Simulator anschaffen möchte (siehe dazu den Bericht auf dieser Seite). Und zum anderen für den Betreuungsverein Landkreis Tübingen. Der Bestreuungsverein hilft Menschen, die ihre Angelegenheiten nicht mehr selbst regeln können und möchte künftig kreisweit über Vorsorgemöglichkeiten fürs Alter aufklären. Unsere Spendenkonten sind: Kreissparkasse Tübingen (IBAN: DE94 6415 0020 0000 1711 11 ) oder Volksbank Tübingen (IBAN:DE916419011001 71111001). Bitte vermerken Sie auf dem Überweisungsträger, ob Sie eine Spendenquittung benötigen (Adresse!), anonym bleiben möchten oder nur ein bestimmtes Projekt (Frühchen oder Altersvorsorge) unterstützen wollen.

Zum Artikel

Erstellt:
21.12.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 6min 10sec
zuletzt aktualisiert: 21.12.2016, 01:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter los geht's
Nachtleben, Studium und Ausbildung, Mental Health: Was für dich dabei? Willst du über News und Interessantes für junge Menschen aus der Region auf dem Laufenden bleiben? Dann bestelle unseren Newsletter los geht's!