Debatte um Parteiausschluss

Pro-Palmer-Appell im Wortlaut: „An seinen Taten sollt Ihr ihn messen“

500 Grüne haben einen Appell unterschrieben, dass der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer nicht aus der Partei ausgeschlossen wird. Sie fordern eine Debatte auch über „vom Mainstream abweichende Meinungen“.

10.01.2022

Von sg

Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer – hier bei einem Spatenstich im Oktober – muss sich für zahlreiche Äußerungen rechtfertigen, hat aber auch viele Unterstützer. Archivbild: Ulmer

Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer – hier bei einem Spatenstich im Oktober – muss sich für zahlreiche Äußerungen rechtfertigen, hat aber auch viele Unterstützer. Archivbild: Ulmer

Die Unterstützer von Boris Palmer sammeln sich und wenden sich an die Öffentlichkeit. 500 Mitglieder (siehe Infobox) haben einen Aufruf gegen den Parteiausschluss unterschrieben. Außerdem gibt es eine Webseite unter http://palmerbleibtgruen.de. Wir dokumentieren den Appell hier ganz im Wortlaut:

Liebe Baden-Württemberger Grüne, wir wenden uns an Euch, weil wir mit dem Beschluss der Landesdelegiertenkonferenz vom 8. Mai 2021, ein Parteiausschlussverfahren gegen Boris Palmer in die Wege zu leiten, nicht einverstanden sein können. Hierfür gibt es gute Gründe, die wir Euch in diesem Schreiben darlegen.

1. Boris Palmer, das grüne „Enfant terrible“

Ob in Grünen Kreisen oder in manchen Presseorganen – wenn von Boris Palmer die Rede ist, dann stets in Verbindung negativer Klischees: „Querulant“, „Egomane“, „Störenfried“, oder gar „Rassist“, „Flüchtlingsfeind“. Unabhängig davon, dass diese Zuschreibungen in den seltensten Fällen hinterfragt werden, sind sie auch Ausdruck dessen, dass es intellektuelle Exzentriker in unserer Partei schwer haben und Charakterköpfe nicht als interessante Bereicherung angesehen werden.

2. Boris Palmer, ein nachweislich erfolgreicher grüner Oberbürgermeister

Bei vielen in unserer Partei ist die kommunalpolitische Arbeit von Boris als Oberbürgermeister kaum bekannt und wird deshalb auch zu wenig gewürdigt. Aus diesem Grund sei hier auf einige wichtige kommunalpolitische Erfolge während seiner bisherigen Amtszeit – ganz im Sinne unserer grünen Werte und Ziele – hingewiesen (siehe auch Liste anbei): Die Verkehrs-, Erneuerbare-Energie- und Klimapolitik führten in Tübingen zu einer Senkung des CO2-Ausstoßes um ein Drittel; die Integrations- und Inklusionspolitik zusammen mit Konzepten der sozialen Wohnungspolitik führten zu einer raschen Integration von Flüchtlingen; die offensive Recyclingpolitik leistete Vorbildliches, und ein umsichtiger Maßnahmenkatalog zur Eindämmung der Coronapandemie führte prioritär zum Schutz von alten und besonders verwundbaren Menschen.

Dank der konsequenten sozial-ökologischen Kommunalpolitik kann Tübingen als Musterstadt für die Umsetzung unserer grünen Werte und Zielvorstellungen gelten. Vorbildhaft wurden auch mehr als 10000 zumeist innovative und zukunftsfähige Arbeitsplätze geschaffen, wodurch die Stadt Tübingen einen Wirtschaftsaufschwung ohnegleichen verzeichnen konnte.

3. Boris Palmer, ein erfolgreicher Vermittler bei Stuttgart 21

Wir erinnern an seine Verdienste als Verhandler zu Stuttgart 21 unter der Federführung von Heiner Geißler. Seine sachlich-rationale Art der Argumentation für eine Ablehnung von Stuttgart 21 leistete einen wichtigen Beitrag im Wahlkampf von 2010/2011. Für die Schaffung von Akzeptanz der Grünen in bis dahin noch nicht erreichte Wählerschichten war dies ein wertvoller und nicht zu unterschätzender Beitrag.

4. Boris Palmer, ein wichtiger Stichwortgeber zur innerparteilichen Debatte

Nehmen wir als Beispiel sein Buch „Wir können nicht allen helfen“, in dem er sehr luzide und überzeugend die Möglichkeiten und Grenzen der Integration geflüchteter Menschen aus kommunalpolitischer Perspektive darlegt. Anstatt seine bedenkenswerten Argumente in programmatischen Debatten innerhalb unserer Partei aufzugreifen, wurde er diffamiert. Wir regen an, dass unsere Partei eine offene und längst überfällige Debatte organisiert über eine zukünftige Migrationspolitik, die die facettenreiche und komplexe Thematik ernsthaft und ehrlich diskutiert und dabei auch die Argumente von Boris Palmer zur Debatte stellt. Wir sind überzeugt, dass viele, die Boris Fremdenfeindlichkeit unterstellen, diese Meinung revidieren, wenn sie das Buch gelesen haben. Im Übrigen weisen wir darauf hin, dass viele seiner im Buch enthaltenen Forderungen Regierungsalltag in den von Grünen mitregierten Ländern und Kommunen sind.

5. Boris Palmer, der Provokateur

Viele – auch wir – halten manche Äußerungen von Boris für unpassend, geschmacklos, beleidigend oder verstörend. Als öffentliche Person, gewählter Vertreter der Stadt und aller Bürgerinnen und Bürger seiner Kommune muss er besondere Zurückhaltung üben. Doch als Gründe für einen Parteiausschluss reichen diese verbalen Entgleisungen nicht aus. Auch wenn manche ihm Rassismus unterstellen, so treten wir dem entgegen. Viele von uns, die mit Boris zum Beispiel in Sachen Ausländer, Afrika, Flüchtlinge zu tun hatten, können hierfür keine Belege in seinem Tun finden. Im Gegenteil, die persönliche Zugewandtheit von Boris Schutzbedürftigen gegenüber ist unübersehbar und schlägt sich auch in seiner Kommunalpolitik nieder.

6. Appell an uns alle

Wir erinnern an die in unserer Partei hochgehaltene Debattenkultur, die wir für besonders schützenswert halten. Menschen auszuschließen, nur weil sie in einer bestimmten Zeit, in der bestimmte Themen Hochkonjunktur haben, den Mainstream verlassen, halten wir für unserer Partei unwürdig. Erinnert sei an die Themen Müllverbrennung, Rotation von Bundestagsabgeordneten oder Pazifismus. Auch dies waren Themen, die zu Ausschlussanträgen gegen sogenannte „Abweichler“ führten. Vergessen ist, dass manche Positionen von damals mittlerweile „flexibler“ ausgelegt werden oder sogar ad acta gelegt wurden. Begreifen wir auch vom Mainstream abweichende Meinungen als Bereicherung und Anstoß zur programmatischen Auseinandersetzung. Es ist unsere Aufgabe, gesellschaftlich kontroverse Themen auch bei uns diskursiv auszutragen, immer in der Hoffnung, dass das beste Argument dann auch siegen wird. Ob das beste Argument auch immer das „moralisch reinste“ ist, wird sich im Laufe der Auseinandersetzung zeigen. Wichtig ist: Solche Debatten müssen von der Partei organisiert und dürfen nicht unterdrückt werden.

Sind wir dazu zukünftig nicht in der Lage, so verkommen wir zu einem intoleranten politischen Spießertum, und das kann leicht zu autoritärem bis unterdrückerischem Verhalten führen.

7. Zum Schluss

Ausschlussanträge sind nur dann gerechtfertigt, wenn ein Parteimitglied sich parteischädigend verhalten hat. Dies kann man aber Boris Palmer nicht vorwerfen, denn kein deutscher Oberbürgermeister hat in Zusammenarbeit mit seiner Verwaltung, seinem Gemeinderat und seinen Bürgerinnen und Bürgern so viele urgrüne Ziele realisiert wie Boris Palmer – wir meinen: An seinen Taten sollt Ihr ihn messen.

Gleichzeitig appellieren wir an das Grundprinzip grüner Politik, dass immer die Bereitschaft zur Konfliktüberwindung und Aussöhnung vorhanden sein muss, und entsprechende Signale erwarten wir von den Grünen Baden-Württembergs.

Bitte bedenkt auch: Ein laufendes Parteiausschlussverfahren schließt aus, dass gleichzeitig ein faires Ringen um eine Kandidatur für das Oberbürgermeisteramt stattfinden kann. Denn es geht nicht, dass Boris als Kandidat für das OB-Amt nominiert wird und kurz darauf – möglicherweise noch im Wahlkampf – die Schiedskommission entscheidet, ihn aus der Partei auszuschließen.

Aus den genannten Gründen bitten wir Euch, in Euren Kreisverbänden dieses Thema zu diskutieren und dafür einzutreten, dass auf der nächsten LDK das Parteiausschlussverfahren zurückgezogen wird.

Die Unterstützer für Boris Palmer

Unterzeichnet haben unter anderem als überregional (früher) bekannte Personen: Uschi Eid, Horst Frank, Ellis Huber, Klaus-Peter Murawski, Dieter Salomon, Rezzo Schlauch, Franz Untersteller, Antje Vollmer und Ludger Volmer.

Im Kreis Tübingen sind zum Beispiel bekannt: Ursula Clauß, Gerd Hickmann, Jürgen Hirning, Sabine Kracht und Elisabeth Schröder-Kappus. In Tübingen: Bruno Gebhart, Hans-Harald Kersten, Claudia Patzwahl, Frithjof Rittberger, Bernd Schott und Carsten Schuffert neben vielen anderen. Sechs von 14 Mitgliedern der Gemeinderatsfraktion haben unterzeichnet: Bernd Gugel, Beate Kolb, Christoph Joachim, Christoph Lederle, Christian Mickeler und Annette Schmidt.

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Erstellt:
10.01.2022, 20:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 24sec
zuletzt aktualisiert: 10.01.2022, 20:00 Uhr

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