Zeit-Zeugen

Am Erfolgsrad gedreht

Das Trautwein Zweirad-Center ist ein Ur-Tübinger Unternehmen. Seit 141 Jahren dreht sich hier das Rad: Im 19. Jahrhundert nahm es an Fahrt auf, kam auch mal ins Holpern und setzt im 21. Jahrhundert schließlich zu einem fulminanten und vielversprechenden Lauf an. Geschrieben wurde die Erfolgsstory von vier Generationen mit Visionen und klugen Entscheidungen.

29.06.2018

Von TEXT: Evi Miller|FOTOS: Unternehmen

In den neuen Fachmarkt in Derendingen zog die bunte Welt des Radfahrens mit seiner ganzen Modellvielfalt.

In den neuen Fachmarkt in Derendingen zog die bunte Welt des Radfahrens mit seiner ganzen Modellvielfalt.

Es begann im Jahr 1877, als Mechanikermeister Julius Trautwein eine kleine Werkstatt in der Ammergasse eröffnete. Damals stand die Reparatur von feinmechanischen Geräten im Vordergrund, hauptsächlich waren es Nähmaschinen, die der Urgroßvater von Paul Julius Trautwein reparierte und wartete. Bald kamen dann auch Fahrräder hinzu. 1887 zog der Firmengründer in die Karlstraße 2, damals ein Standort auf der grünen Wiese, und erweiterte das Sortiment kontinuierlich. Auch Autos und Waschmaschinen gehörten teilweise dazu – wurden aber bald wieder aufgegeben. Die Nähmaschinen blieben für 130 Jahre. „Zwei Weltkriege machten ihre Bedeutung nur noch größer, denn viele Familien nähten ihre Kleider selber“, sagt Paul Julius Trautwein. Erst 2009 gab er dieses traditionelle, aber in den letzten Jahren umsatzschwächelnde Standbein auf.

Bis heute geblieben und immer weiter ausgebaut hat die Firma Trautwein das Segment der Fahrräder. Wenngleich es auch hier schwierige Zeiten gab. „In den Wirtschaftswunderjahren war es einfach nicht mehr schick, mit dem Fahrrad zu fahren“, so Paul Julius Trautwein. „Jeder, der es sich leisten konnte, hat sich ein Auto gekauft. Fahrräder waren uninteressant.“ Bei Trautwein hat man jedoch immer eine Perspektive für das Fahrrad gesehen. „Wenig Platzbedarf, man findet immer und sofort einen Parkplatz für das Gefährt, es ist gesundheitsfördernd und ein Sportgerät“, fasst Trautwein die Vorteile des Fahrrads zusammen. Freilich waren nicht alle diese Eigenschaften immer so hoch geschätzt wie heute. Die richtigen Weichen für die Zukunft stellte Julius Trautwein dennoch. Als eines der ersten Mitglieder trat er in den sechziger Jahren der Zweirad-Einkaufs-Genossenschaft (ZEG), einem Verbund von unabhängigen Fahrrad-Fachhändlern, bei und sicherte sich somit günstige Einkaufsmöglichkeiten und Werbedienstleistungen. „Die durch den Großeinkauf erzielten Mengenrabatte gaben und geben wir direkt an unsere Kunden weiter, so dass wir ein unschlagbares Preis-Leistungsverhältnis anbieten können“, sagt Paul Julius Trautwein. Auch aus heutiger Sicht findet er die Entscheidung seines Vaters sehr weise und die einzige Möglichkeit, sich gegen die großen Händler durchzusetzen. Zudem ihnen damals auch die Kaufhausketten und Baumärkte Konkurrenz machten. Die Anforderungen der ZEG an ihre Händler waren übrigens auch nicht klein: Man musste die Nummer 1 am Ort sein. Und es konnte immer nur ein Händler aus einer Stadt der Genossenschaft beitreten. Dass sein Vater es geschafft hatte, war für Paul Julius Trautwein die Voraussetzung, das Familienunternehmen zu übernehmen. Nach dem Maschinenbaustudium war er bei der Firma Bosch in der Dieselentwicklungsabteilung in Stuttgart-Feuerbach beschäftigt. 1991 kam er nach Tübingen zurück. Seine größte berufliche Herausforderung: der Neubau des modernen Fachmarktes in Tübingen-Derendingen. „Meine Vision war es, die Fahrräder in der ganzen existierenden Modellvielfalt zu präsentieren. Und damit alle Zielgruppen, vom Sportler bis zur Familie, zu bedienen“, sagt Trautwein. 2011 war der Fachmarkt fertiggestellt – doppelt so groß wie das Stammhaus in der Karlstraße. Mit großer Werkstatt und einer Lagerfläche für über 3000 Fahrräder und E-Bikes.

Nachdem der Fachmarkt immer besser angenommen wurde, schloss 2014 das Geschäft in der Karlstraße. „So konnten wir die Ressourcen am jetzigen Standort bündeln“, sagt Paul Julius Trautwein. Was in den letzten zehn Jahre passierte, nennt er einen Glücksfall für die Firma: Die Entwicklung der Elektrofahrräder bescherte der Fahrradbranche einen enormen Auftrieb. War es anfangs die ältere Generation, die auf die motorisierte Unterstützung am Berg setzte, ist das E-Bike mittlerweile generationenübergreifend gefragt. Trautwein vergleicht die Annehmlichkeiten beim E-Bike-Fahren mit dem Lift beim Skifahren. Wer würde heute noch seine Skier abschnallen und sich zu Fuß den Berg hoch kämpfen?

In diesem Sinne sieht er bei den Verkaufszahlen für E-Bikes noch viel Spielraum nach oben. Auch die aktuelle Entwicklung wird weitere Verbesserungen mit sich bringen, insbesondere was die Batterietechnik angeht. „Die Batterien werden in den nächsten Jahren leistungsfähiger und leichter werden“ prognostiziert Trautwein. Als optisches Highlight lobt er in diesem Jahr die E-Bikes, deren Akkus in den Rahmen integriert sind. „Man erkennt auf den ersten Blick gar nicht, dass sie elektrobetrieben sind.“

Angesichts dieser allgemeinen positiven Entwicklung blickt Paul Trautwein entspannt in die Zukunft. Und wie steht die nächste Generation zum Familienunternehmen? Wird die Firma Trautwein auch in der fünften Generation in Familienhand bleiben? Vielleicht dann sogar in weiblicher? Auch da ist Paul Trautwein ganz entspannt. Zwei Töchter studieren BWL. Der jüngste Spross geht noch zur Schule. „Da ist alles noch offen“, sagt Trautwein. Das E-Bike gehört auf jeden Fall schon zum Alltag des 14-jährigen Sohnes. Obwohl ihn eigentlich nur ein kleiner Hügel von der Schule trennt. „Er ist im Sportzug der Geschwister-Scholl-Schule, will sich aber frühmorgens beim Fahrradfahren noch nicht so anstrengen“, schmunzelt sein Vater.

Von 1887 bis 2011 war der Trautwein-Stammsitz in der Karlstraße 2.

Von 1887 bis 2011 war der Trautwein-Stammsitz in der Karlstraße 2.

Julius Trautwein, Firmengründer und Geschäftsführer von 1877-1910, eröffnet das Nähmaschinengeschäft in der Ammergasse.1887 erfolgt der Umzug in die Karlstraße 2.

Julius Trautwein, Firmengründer und Geschäftsführer von 1877-1910, eröffnet das Nähmaschinengeschäft in der Ammergasse.1887 erfolgt der Umzug in die Karlstraße 2.

Am Erfolgsrad gedreht

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Erstellt:
29.06.2018, 07:52 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 24sec
zuletzt aktualisiert: 29.06.2018, 07:52 Uhr

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