Allein die Schrift?

Michael Seibt verabschiedete sich nach acht Jahren als Studierendenpfarrer in der Tübinger Stiftskirche („Blick zurück ohne Schönfärberei“, 11. Januar).

20.01.2018

Von Uwe Brauner, Tübingen

Zur Prüfung des Vorwurfs, Seibts Ansatz sei unpräzise und unwissenschaftlich, eignet sich sein Vortrag „Allein die Schrift?“ auf der Website der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Hier seine Problemanzeige: Bei Luther fehlt der letzte Schritt des mittelalterlichen Umgangs mit der Bibel: das stille Verweilen in der Gegenwart Gottes. Vollendete dort die Kontemplation die Schriftauslegung im Sinne einer nicht mehr diskursiv vermittelten Gotteserfahrung, so wird für Luther das geschriebene und gesprochene Wort zur alleinigen Basis für das meditierende Suchen nach dem Heiligen Geist. Die Contemplatio entfällt. Für ihn gibt es damit keinen mystischen oder geistigen Sinn der Schrift mehr, der auf etwas anderes verweist, als im Wort bereits enthalten ist. Auch ist ihm Einheit zwischen Gott und Mensch jenseits diskursiven Denkens und worthafter Vermittlung nicht mehr möglich. Das Heil verlagert sich weg von der Verwandlung der menschlichen Existenz ganz in die Göttlichkeit des zusagenden Wortes.

Die Möglichkeit einer Verwandlung des Menschen in das Bild Christi, die doch in 2. Kor. 3,18 beschrieben ist, bedenkt Luther nicht. Die Folgen lassen sich am Beispiel der Geburt Christi besonders deutlich zeigen. Da reformatorische Schriftauslegung alle Aufmerksamkeit auf den Wortsinn richtet, kommt jene für sie nur noch als historisches Heilsereignis in den Blick. Sie nimmt nicht mehr ernst, dass die Bibel auf eine spirituelle Wirklichkeit verweist, die nicht im Text oder im Wort enthalten ist.