Alle setzen auf Verdichtung

Das TAGBLATT-Podium zur Gemeinderatswahl

Die Kandidatinnen und Kandidaten von acht Tübinger Kommunalwahllisten zeigten nicht nur in der Wachstumsfrage viel Einigkeit und wenig Kontroverse bei der Debatte im Sparkassen Carré.

24.05.2019

Von Ulla Steuernagel

Bilder: Ulrich Metz

Bilder: Ulrich Metz

Die Gräben zwischen den Kandidatinnen und Kandidaten für die Kommunalwahl waren weniger tief als parteipolitisch zu erwarten gewesen wäre. Das gut zweihundertköpfige Publikum bekam in einer fast dreistündigen Debatte am Dienstagabend im Sparkassen Carré manches Musterbeispiel kollegialen Konsenses zu hören. Chefredakteur Gernot Stegert und Redakteurin Sabine Lohr moderierten das TAGBLATT-Podium mit acht Tübinger Kommunalwahlkandidatinnen und -kandidaten und reglementierten deren Beiträge streng – aber gerecht – im Sekundentakt. Wenn Udo Lindenbergs bedauernder Abgesang „Good-bye Jonny“ erklang, wussten die Redner, dass nun „leider, leider“ ihre Zeit abgelaufen war.

Auf eine Einladung der AfD-Liste mit nur vier Kandidaten habe man verzichtet, so erklärte Stegert anfangs, weil sie kommunalpolitisch „nicht in Erscheinung getreten“ sei. Die anderen acht Listen unterschieden sich oftmals nur in feinen Nuancen. So förderte auch die Frage nach dem Grad des künftigen Wachstums keine schroffen Gegensätzen zutage. AL/Grünen-Spitzenkandidatin Asli Kücük setzt auf eine „kompetente Wachstumsbremse“. Und SPD-Mann Martin Sökler bekannte, dass die Ökologie kein grünes Spezialthema mehr ist, seine Partei habe „in den letzten Jahren dazugelernt“. Die Sozialdemokraten plädieren nun zwar nicht für „Nullwachstum“, aber für eine „Verdichtung auch beim Gewerbe“. FDP-Allstar Dietmar Schöning war ebenfalls für eine „endogene Entwicklung“, also Innenverdichtung. Ein „wissenschaftsbasiertes Wachstum“ mache ihm aber „wenig Sorgen“ – so meinte er in Hinblick auf den Flächenfraß. Ernst Gumrich, Stadtrat der Tübinger Liste, plädierte ebenfalls für moderates Wachstum: „Wir steuern zwar auf eine Großstadt zu, aber nicht mit aller Kraft.“ Auch Rudi Hurlebaus, CDU-Fraktionsvorsitzender, sprach sich nicht für ein Wachstum um jeden Preis aus, sondern koppelte es an die Sorge, dass sonst lokale Betriebe abwandern würden.

Dietmar Schöning, FDP

Dietmar Schöning, FDP

Als die Kandidatenreihe mit ihren Stühlen vom Publikum abrückte, hatte das nichts mit Zurückweichlertum zu tun: Asli Kücük tropfte Wasser auf den Rücken. Zur allgemeinen Überraschung hielt nämlich das Sparkassendach dem Regen nicht stand.

In der Einzelbefragung kamen schließlich auch kontroverse Ideen und Meinungen ins Spiel. Wann soll der Saiben, das Gelände zwischen Derendingen und dem Bahnbetriebswerk, bebaut werden? Kücük schloss sich Oberbürgermeister Boris Palmers Absichtserklärung an: Für die nächsten zehn Jahre werde der Ausbau der Innenstadtflächen reichen, 5400 Wohnungen könne man auch ohne die grüne Wiese Saiben bauen. Mehr wäre von der Infrastruktur her nicht zu stemmen.

Martin Sökler, SPD

Martin Sökler, SPD

Gegen diese einstweilige Unantastbarkeit des Saiben hatte sich eine starke Koalition gebildet: Linken-Stadträtin Gerlinde Strasdeit war sich sicher, man brauche den Saiben schon wegen des sozialen Wohnungsbaus. Auch ihr CDU-Kollege Hurlebaus sprach sich für die Saiben-Bebauung aus. Sökler bekam dann im Zweiergespräch mit Kücük die Gelegenheit, die Dringlichkeit einer baldigen Bebauung zu erklären. „Tübingen darf nicht zur Stadt der Reichen werden!“ 60 Prozent der Familien müssten inzwischen mehr als ein Drittel ihres Einkommens fürs Wohnen ausgeben, kritisierte er. Nur mit der Nutzung des Saiben könne eine „Gentrifizierung verhindert“ werden. Was die 650 im Saiben geplanten Wohneinheiten denn dagegen auszurichten vermögen, fragte Kücük zurück. Der Sozialdemokrat erläuterte: Die Kommune habe hier mehr baurechtliche Möglichkeiten. Sie könne die Entstehung weiterer Luxuswohnungen durchkreuzen, 90 Prozent der Wohnbebauung reglementieren und für soziales Wohnen und andere Wohnformen bereitstellen. Kücük fand: „Das Queckareal und die Marienburger Straße können wir auch so vergeben.“ Sie bekannte sich zudem als Gegner des Wohneigentums.

Asli Kücük, AL/Grüne

Asli Kücük, AL/Grüne

Die Moderatoren hatten vorher jedem Kandidaten und jeder Kandidatin einen Joker gegeben: nur einmalig einsetzbar und zur Kommentierung der Zweiergespräche. Strasdeit zog und erinnerte an das Wiener Modell von Kommunalbauten, und Hurlebaus, dass im Queckareal nur 30 Prozent sozialer Wohnungsbau möglich sei.

Den routinierten Stadtrat Schöning spannten die Moderatoren mit Newcomer David Hildner (Die Partei) unter dem Oberthema Verkehr zusammen. Schöning sprach sich vehement für eine Innenstadtstrecke der Regionalstadtbahn aus, über die 2020 per Bürgerentscheid abgestimmt werden soll. Nach zwanzigjährigen Vorarbeiten hofft er sehr, dass die Mehrheit die Bahn zum Klinikum will. Neckarbrücken-Umbau, Radlerprobleme und Quietschen konnten für ihn nicht ihre Pluspunkte, eine Verkehrs- und Umweltentlastung, entwerten. „Wenn jemand ein besseres Mobilitätskonzept hat, dann sehr gerne!“ „Können Sie bekommen“, entgegnete Kontrahent Hildner. Der Informatikstudent hängte sich an die Seilbahn-Initiative seines Parteigenossen Markus Vogt an. Von wegen Spaßidee –andere Städte, wie Leonberg, hätten schon Machbarkeitsstudien zum Luftverkehr beauftragt. Mit einer Stadtbahn hingegen werde die Mühlstraße zur „Todesfalle für Radfahrer“. Schöning widersetzte sich diesem Begriff: „Die Stadtbahn fährt acht Mal in der Stunde und ersetzt so 24 Busse.“ SPD und Grüne waren sich mit FDP in der Mobilitätsfrage komplett einig: „Zwischen uns passt kein Blatt Papier“, sagte Sökler zu Kücük.

Rudi Hurlebaus, CDU. Bild: Ulrich Metz

Rudi Hurlebaus, CDU. Bild: Ulrich Metz

Innerparteilich ist diese Nähe nicht immer so eng. Ob sie Palmers Meinung zu Bahnwerbung und Rüpelradler rassistisch finde, verlas Stegert eine Frage, die von außen an die Grüne gestellt worden war. Kücuk wand sich ein wenig und sagte dann: „Palmers Äußerungen sind so, wie er sie gebracht hat, rassistisch – ja.“

Ist die Stadt ein unsicheres Pflaster? Die Spitzenkandidatin der DiB-Liste, Sara da Piedade Gomes, fand „nein“. Sie korrigierte: „Als Frau fühlt man sich zu Hause nicht sicher.“ Hurlebaus wollte sich auch auf Lohrs Nachfrage nicht auf eine Erhöhung des schon verstärkten nächtlichen Ordnungsdienstes festlegen. Ein Nachtbürgermeister, ein genehmigter Antrag seiner Partei, leuchtete ihm jedoch ein. Zu diesem Thema zog Hildner seinen Joker und brachte den Saal zum Lachen: „Ich unterstütze die Idee eines Nachtbürgermeisters, weil, wenn man nachts unterwegs ist, muss man dann keine Angst vorm Tagbürgermeister haben.“

David Hildner, Die Partei. Bild: Ulrich Metz

David Hildner, Die Partei. Bild: Ulrich Metz

Das Thema Wirtschaft hatten die Moderatoren für das Duo Gumrich und Strasdeit vorgesehen. Gumrich nannte Kriterien für Gewerbeansiedlung. Vor allem sollten „Betriebe mit hoher Arbeitsplatzdichte und lokale Spieler nicht ausgebremst werden“. Doch bevor er die Fläche des Real-Marktes in Weilheim und um diesen herum schon zu verplanen begann, warnte Strasdeit: „Da ist noch nichts entschieden!“ Über 100 Frauenarbeitsplätze hingen an der Aufgabe dieses Marktes.

Ernst Gumrich,Tübinger Liste. Bild: Ulrich Metz

Ernst Gumrich,Tübinger Liste. Bild: Ulrich Metz

„Die Kommunen sind finanziell unterversorgt“, monierte Strasdeit. Der Bund müsse mehr tun und das könne er, indem er die Rüstungsausgaben streiche. „Wir müssen Druck machen!“, so ihre Forderung. Gumrich konterte, er finde viele Vorschläge der Linken und SPD „richtig gut“, aber finanzieren ließen sie sich meist nicht. Als Mittel zum Ziel höre er immer nur die Vorschläge: „Reichensteuer anheben und Druck machen. Aber der einzige Druck kommt dann vom Regierungspräsidium.“ Dass sie auch lokales Einsparpotenzial sieht, offenbarte Strasdeit mit dem Vorschlag, die Tübinger Wirtschaftsförderung (WIT) zu streichen.

Gerlinde Strasdeit, Die Linke. Bild: Ulrich Metz

Gerlinde Strasdeit, Die Linke. Bild: Ulrich Metz

Um einer drohenden „Todesspirale“ des städtischen Handels zu entkommen, empfahl Gumrich eine Überarbeitung und Öffnung der Altstadtsatzung, die das Einkaufserlebnis fördere und mehr Stehgastronomie zulasse. Für den ganz großen Wirtschaftsplan plädierte Schöning in seinem Bekenntnis zum Cyber Valley. „Ein tolles Projekt“ schwärmte er, bei dem die Fraktionen sich auf ein gemeinsames ethisches Leitbild geeinigt haben, dem allerdings Amazon vor der Baugenehmigung noch zustimmen muss.

Sara da Piedade Gomes, DiB. Bild: Ulrich Metz

Sara da Piedade Gomes, DiB. Bild: Ulrich Metz

Eine Ausweitung des Tübus umsonst und die Befreiung von Kita-Gebühren sind wichtige Punkte im sozialdemokratischen Programm. Kücük sagte, die Grünen hätten auch gerne gebührenfreie Kitas, doch die Einnahmen durch die sozial gestaffelten Gebühren sollten erst einmal den Erzieherinnen zugute kommen.

Und wo blieb die Kultur? Immerhin in einer Abstimmung kam sie vor. Sabine Lohr schlug mehrere Orte für einen Konzertsaal vor: Europaplatz, Brunnenstraße/Schindelstube, Wilhelmstraße und Uhlandbad standen zur Wahl. Die Schindelstube bekam mit Schöning, Gumrich und Hurlebaus die meisten Stimmen.

TAGBLATT-Podium am Rande

Ein letztes Meinungsbild wollte sich Marlene Mendrzyk am Mittwochabend von den Parteien und Listen verschaffen, bevor sie ihre Briefwahlunterlagen fertig ausfüllte. Zum ersten Mal darf die 16-Jährige am Sonntag wählen. Besonders interessant fand die Pennälerin die Positionen zur Regionalstadtbahn. Die Argumente zur Innenstadtstrecke durch die Mühlstraße „haben mich nicht überzeugt“, sagte sie. Stattdessen solle man die Ortsteile verkehrstechnisch besser anbinden. Sie bedauerte, dass das Thema Digitalisierung am Mittwoch nicht intensiver besprochen wurde. Nach zwei Stunden Input verließ sie aber angesichts des frühen Schulbeginns am kommenden Tag mit ihrer Mutter die Veranstaltung. „Lieber diskutiere ich das jetzt noch mal ein bisschen mit meiner Mutter“, sagte sie.hoy