Bedenken ausgeräumt

Alle Fraktionen tragen das Tübinger Baugebot mit

Im Verwaltungsausschuss räumte Oberbürgermeister Boris Palmer mit vielen Falschbehauptungen auf und etliche Bedenken aus.

19.03.2019

Von Sabine Lohr

„Betreten verboten“ – mehr als ein Schild steht nicht auf diesem Grundstück an der Hechinger Straße. Dabei könnte es längst dazu beitragen, die Wohnungsnot ein klein wenig zu lindern. Der Eigentümer soll nun zum Bauen verpflichtet werden. Bild: Ulrich Metz

„Betreten verboten“ – mehr als ein Schild steht nicht auf diesem Grundstück an der Hechinger Straße. Dabei könnte es längst dazu beitragen, die Wohnungsnot ein klein wenig zu lindern. Der Eigentümer soll nun zum Bauen verpflichtet werden. Bild: Ulrich Metz

Seit Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer angekündigt hat, den Paragraphen 176 des Baugesetzbuches anzuwenden und Besitzer von Baugrundstücken zum Bauen zu zwingen, schlagen die Wogen hoch. Aus mehreren Gründen: Zum einen war viel von „Enteignung“ die Rede, von Eltern, die ihr Grundstück den Kindern vorhalten wollen, von Rentnern, die kein Darlehen mehr für den Hausbau bekommen und sogar von Senioren, die in einem alten, kleinen Häusle leben, das wegen des Baugebots jetzt abgerissen werden solle.

Zum anderen forderten Teile des Gemeinderats Mitbestimmung ein und rügten Palmer wegen seines Alleingangs. Und zum dritten schließlich fanden einige Fraktionen den Aufwand viel zu groß – wo doch die Bauverwaltung ohnehin überlastet sei.

Am Montagabend nun war das Baugebot Thema im Verwaltungsausschuss des Gemeinderats. Und dort klärte sich einiges:

Um welche Grundstücke handelt es sich?

Es gibt drei Arten von Baulücken: die innerhalb eines qualifizierten Bebauungsplans, die innerhalb eines einfachen (alten) Bebauungsplans und die außerhalb eines Bebauungsplans. Bei den beiden letzten werde es, so Palmer, eher schwierig, das Baugebot juristisch durchzusetzen. Er kündigte deshalb an, nur jene Eigentümer anzuschreiben, deren Grundstücke in Quartieren liegen, für die qualifizierte Bebauungspläne gelten. Das ist unter anderem auf dem Herrlesberg der Fall, wo es zum Beispiel Reihenhäuser gibt, an deren Ende jeweils ein Hausteil fehlt.

Sind auch bebaute Grundstücke und Gärten betroffen?

Nein. Als Baulücke gelten nur unbebaute Grundstücke. Es spielt auch keine Rolle, wie alt das Haus ist, das auf dem Grundstück steht. Eine Baulücke, die als Garten genutzt wird, bleibt eine Baulücke. Ein Garten aber, der kein Baugrundstück ist, bleibt ein Garten.

Wird jeder Baulandbesitzer zum Bauen gezwungen?

Die Verwaltung macht, das sagte Palmer zu, Einzelfallprüfungen. Ein Eigentümer, der auswärts lebt und sein Grundstück nur deshalb brach liegen lässt, weil so dessen Wert steigt, soll zum Bauen verpflichtet werden. Eltern oder Großeltern, die ihr Grundstück den Kindern oder Enkeln überlassen wollen, können, je nach familiärer Situation, zum Bauen verpflichtet werden oder auch nicht. „Man kann auch bauen und das Haus vermieten – und die Kinder können es später ihren Bedürfnissen anpassen“, so Palmer.

Werden die Grundstücksbesitzer beraten?

Ja. Die Beratung ist sogar gesetzlich vorgeschrieben. Ist jemand bereit zu bauen oder zu verkaufen, hilft die Verwaltung, bei der es auch zwei Wohnraumbeauftragte gibt.

Warum wurde das Baugebot nicht früher umgesetzt?

Laut Palmer hat er bereits vor zehn Jahren alle Grundstücksbesitzer angeschrieben. Etwa ein Fünftel der damals unbebauten Grundstücke seien inzwischen bebaut. Seither habe sich aber zweierlei geändert. Die Stadt verkauft Grundstücke nur noch mit einer Bauverpflichtung. „Warum sollen Leute, die seit 30 Jahren ihr Grundstück brach liegen lassen, anders behandelt werden?“, fragte der OB rhetorisch. Zweitens erlebe Tübingen zurzeit eine Wohnungsnot, wie sie zuletzt in den 1980er Jahren geherrscht habe. Damals, so Palmer, sei darüber diskutiert worden, die Universität zu enteignen, um an Wohnungen zu kommen. Dazu kommt die Devise „Innenentwicklung vor Außenentwicklung“. Bevor Ackerflächen bebaut werden, sollen Baulücken geschlossen werden, so Palmer.

Darf der OB im Alleingang das Baugebot durchsetzen?

Der wissenschaftliche Dienst der Bundesregierung bezeichnet die Durchsetzung des Paragraphen 176 als „Verwaltungshandeln“, der Gemeinderat muss also nicht eingebunden werden. Verwaltungshandeln ist es, weil lediglich ein Gesetz angewendet wird und weil es eine Einzelfallprüfung geben muss. Palmer will aber den Gemeinderat hinter sich haben. Nachdem er die Befürchtungen der konservativen Fraktionen, es treffe auch Härtefälle, ausräumen konnte, sprachen sich die Fraktionen für die Durchsetzung des Gesetzes aus. Palmer kündigte an, den Gemeinderat weiter einzubeziehen. Wenn er die Antworten der Eigentümer hat, werden diese kategorisiert und die Fälle aufgearbeitet. Dann soll dem Gemeinderat mitgeteilt werden, wie die Verwaltung weiter vorgehen will.

Ab wann soll das Baugebot durchgesetzt werden?

Palmer hat einen Brief an die Eigentümer entworfen, den vor allem die CDU-Fraktion zu scharf formuliert findet. Auf Anregung von Ulrike Ernemann soll es nun eine Arbeitsgruppe geben, die den Brief etwas entschärft. Der CDU geht es vor allem darum, keinen Druck aufzubauen und sich kooperativ zu zeigen. Bevor diese Briefe verschickt wird, will Palmer in alle Ortschaftsräte gehen und dort erklären, um welche Baulücken es sich jeweils handelt und wo das Baugebot durchgesetzt werden soll. Erst dann wird der Brief verschickt. Darin werden die Grundstückseigentümer zum Bauen oder Verkaufen innerhalb von vier Jahren aufgefordert. Wenn sie das nicht wollen oder können, müssen sie ihre Gründe dafür darlegen.

Welche Art von Wohnungen sollen gebaut werden? Kann die Stadt den Eigentümern Vorschriften machen?

Gerlinde Strasdeit (Die Linke) drängte darauf, bei den Neubauten sozialen Wohnungsbau zu realisieren. Das wird nicht durchsetzbar sein, weil es sich in der Regel um Grundstücke handelt, auf die ein Ein- oder Zweifamilienhaus gebaut werden darf. Palmer meint, auch wenn durch das Baugebot vor allem Besserverdiener ein Haus finden, entspanne das den Wohnungsmarkt, weil so Etagenwohnungen für Familien frei werden würden.

Schafft die Bauverwaltung es, all die Fälle zu prüfen und alle Bauanträge abzuarbeiten?

Die Prüfung der Fälle hat Palmer zur Chefsache erklärt. Der Fachbereich Kommunales wird für die ersten Schritte und alle Fragen der Eigentümer zuständig sein. Die Bauverwaltung kommt erst bei den Bauanträgen ins Spiel. „Es ist ja unser Ziel, Bauanträge zu bekommen“, so Palmer. Ob deren Bearbeitung dann ein oder zwei Monate länger bräuchte, spiele keine große Rolle.

Wird, wer weder verkaufen noch bauen will, enteignet?

Die Enteignung ist erst der letzte Schritt nach der Einzelfallprüfung und nach Gesprächen. Wenn die Gründe des Eigentümers, nicht zu bauen oder zu verkaufen, nicht nachvollziehbar sind und alle Gespräche nichts fruchten, wird zuerst ein hohes Zwangsgeld verhängt. Hilft auch das nicht, folgt die Enteignung (mit Entschädigung).

Stellungnahmen im Gemeinderat

Auf Antrag von Ernst Gumrich (Tübinger Liste) wurde das Thema in den Gemeinderat verwiesen. Dort wird zwar nicht darüber abgestimmt, ob das Baugebot durchgesetzt wird, es liegen aber noch Anträge vor. Die Fraktionen wollen dann ausführliche Stellungnahmen abgeben. In den kurzen Stellungnahmen im Ausschuss wurde deutlich, dass alle Fraktionen das Baugebot nun mittragen. Auch CDU, Tübinger Liste und FDP, die gemeinsam beantragt haben, von der Durchsetzung des Baugebots Abstand zu nehmen. Gumrich sagte: „Nichts spricht dagegen, dass eine Kommune versucht, den Paragraphen 176 zu reaktivieren.“ Dietmar Schöning (FDP) lobte Palmer, weil es diesem um „echte“ Baulücken gehe und Ulrike Ernemann (CDU) kündigte an, bei der Überarbeitung des Briefs an die Eigentümer mitzuwirken. Der Gemeinderat tagt am Donnerstag, 28. März.