Die Spuren des Krieges am Gleis durchs Neckartal

300 Stabbrandbomben und 150 Kilo Munition vor B28-Bauarbeiten bei Tübingen geborgen

Zwischen Weilheim und Bühl wurden im Baufeld der neuen B28 rund 300 Stabbrandbomben und 150 Kilo Munitionsteile geborgen.

14.06.2017

Von Moritz Hagemann

Jeder Kreis ein Einschlag: Die meisten Angriffe galten der Südstadt mit ihren Kasernen und Industriegebäuden (rechts oben im Bild) und der Bahnlinie – in der Karte gestrichelt dargestellt – in Richtung Rottenburg, an der nun die Bomben gefunden worden sind. Karte aus dem Archiv: Stadt Tübingen

Jeder Kreis ein Einschlag: Die meisten Angriffe galten der Südstadt mit ihren Kasernen und Industriegebäuden (rechts oben im Bild) und der Bahnlinie – in der Karte gestrichelt dargestellt – in Richtung Rottenburg, an der nun die Bomben gefunden worden sind. Karte aus dem Archiv: Stadt Tübingen

Bei 18 Fliegerangriffen in Tübingen, so ist es überliefert, gingen im Zweiten Weltkrieg 1209 Sprengbomben und Granaten über der Stadt herunter. Die meisten davon im Frühjahr 1945. Hinzu kamen Abwürfe tausender Brandbomben.

Gerade Bahntrassen sind für solche Überbleibsel aus dem Zweiten Weltkrieg keine ungewöhnlichen Fundorte. Um Lieferungen zu den Fronten und wichtigen Industriezweigen zu unterbinden, waren die Gleise ein Primärziel für Angriffe. Das galt auch für das Baufeld zwischen Weilheim und Bühl. Aufgrund der Arbeiten an der neuen B28 hatte das Regierungspräsidium Tübingen im Jahr 2016 beim Kampfmittelbeseitigungsdienst Baden-Württemberg (KBD-BW) eine Bildauswertung der Luftaufklärung des Zweiten Weltkrieges beantragt. „Das ist eine übliche Maßnahme bei Arbeiten an Schienen“, sagt Projektleiter Edwin Kuhn vom Regierungspräsidium.

Der Kampfmittelbeseitigungsdienst wurde mittels Metallsondierungen fündig: Im Zeitraum von März 2016 bis zur bislang letzten Bergung am 18. April diesen Jahres wurden entlang der Bahnschienen rund 300 Stabbrandbomben, etwa 150 Kilo Munitionsteile sowie eine Handgranate geborgen. „Aber davon geht und ging keine Gefahr aus“, sagt Mathias Peterle vom Kampfmittelbeseitigungsdienst. Für den ist die Masse nicht beunruhigend: „Stabbrandbomben haben wir täglich“, sagt er, „in Stuttgart jeden Tag im Schnitt bestimmt drei oder vier.“ Das sei „nichts Besonderes“, vor allem in Industrieregionen.

Reine Brandmasse, nichts Explosives

Was zwischen Weilheim und Bühl gefunden wurde, sei „reine Brandmasse, nichts Explosives“. Eine Stabbrandbombe, sagt Peterle, müsse man sich wie eine überdimensionale Wunderkerze vorstellen. Die jedoch heißer wird und länger brennt. Peterle ordnet die nun gefundenen Bomben in Tübingen den britischen Streitkräften zu. Die Anzahl von 300 Stück sei dadurch erklärbar, dass Stabbrandbomben meist in Behältern und somit in großer Menge abgeworfen wurden und sich erst kurz über dem Boden verteilten. „Da wird wahrscheinlich ein ganzer Behälter nicht aufgegangen sein“, vermutet Peterle.

Die Stabbrandbomben befanden sich eineinhalb bis drei Meter unter der Oberfläche, besonders am Gebiet um den Kilchberger Bahnhof sind viele Blindgänger aufgetaucht. Unklar sei, ob alle gefundenen Bomben direkt über den Schienen abgeworfen oder erst später in die entstandenen Trichter entsorgt worden sind. „Eine Handgranate ist eher ein Zeichen, dass man die Munitionsreste einfach in die Trichter geworfen hat“, sagt Peterle.

Hätte es sich um Sprengbomben gehandelt, wäre eine kontrollierte Sprengung und eventuell gar eine Evakuierung notwendig geworden. Doch bei Brandbomben sei die Lage deutlich durchsichtiger. Die gefundenen Teile wurden an die Dienststelle des KBD-BW nach Stuttgart gebracht, dort eingelagert und dann vernichtet, „bis nur noch Metallsplitter übrig waren“, sagt Peterle. Sprengstoffe aus dem Zweiten Weltkrieg hätten die Eigenschaft, bei 70 bis 80 Grad zähflüssig zu werden und wie Kerzenwachs zu schmelzen. Größere Munitionsteile mussten zersägt werden.

Die Bergungen im Baufeld von Weilheim bis Bühl sind komplett abgeschlossen. Die Arbeit des Kampfmittelbeseitigungsdienstes geht noch weiter: auf dem übrigen Streckenabschnitt bis nach Rottenburg. Dort sollen im kommenden Frühjahr weitere Relikte des Krieges aus dem Boden geholt werden. „Es gibt noch zwei Stellen, die genauer untersucht werden“, sagt Projektleiter Kuhn. Der rechnet nicht damit, dass dabei nochmal eine ähnliche Anzahl an Bomben geborgen wird: „Das wird weniger sein.“

Weil das Regierungspräsidium darauf vorbereitet war, wird sich der Bau für den Abschnitt der neuen B28 von Weilheim bis Bühl dadurch nicht verzögern. Die Straßenbauarbeiten, so versichert Kuhn, werden pünktlich im Frühjahr 2018 beginnen.

Brandbomben aus dem Identifizierungskatalog für Munition und Kampfmittel beider Weltkriege und Neuzeit. Rechts sogenannte Stabbrandbomben, wie sie am Gleis zwischen Bühl und Weilheim gefunden wurden. Bild: Kampfmittelbeseitigungsdienst Baden-Württemberg

Brandbomben aus dem Identifizierungskatalog für Munition und Kampfmittel beider Weltkriege und Neuzeit. Rechts sogenannte Stabbrandbomben, wie sie am Gleis zwischen Bühl und Weilheim gefunden wurden. Bild: Kampfmittelbeseitigungsdienst Baden-Württemberg

Was ist eine Stabbrandbombe?

Stabbrandbomben, die im Zweiten Weltkrieg anfangs von der englischen Royal Air Force genutzt und später von den Amerikanern kopiert wurden, sind in ihrer ursprünglichen Form 54,5 Zentimeter lang. Die sechseckigen und jeweils 1,7 Kilo schweren Brandbomben wurden ab 1942 regelmäßig verwendet. An einem Ende befindet sich ein Stahlkopf, der Rest der Außenhülle besteht aus der Legierung Elektron sowie teils auch Weißblech. Über Deutschland sind im Zweiten Weltkrieg etwa 80 Millionen Stabbrandbomben abgeworfen worden. Beim Aufschlagen auf ein hartes Hindernis wurde der empfindliche Schlagbolzen der Bomben nach unten gedrückt, wodurch die Zündladung aktiviert wurde. Weil der Zünder empfindlich war, kam es häufig zur Bildung von Blindgängern. Davon werden noch heute viele gefunden.

Zum Dossier: Neubaustrecke der B28

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Erstellt:
14.06.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 04sec
zuletzt aktualisiert: 14.06.2017, 01:00 Uhr

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