Bräute, Gräberfelder, Sterne

300 Menschen folgten Udo Rauch und Dagmar Waizenegger auf Spurensuche nach der NS-Vergangenheit am Ö

Im Zusammenhang mit der Ausstellung Fritz Bauer gab es diese Führung schon einmal. Damals kamen 20 Leute. Am Montag abend versammelten sich 300 Menschen im Hof hinter dem Landgericht, um „Spuren der NS-Vergangenheit am Österberg“ zu folgen. Wenn es eines Beweises für die Beliebtheit der Reihe „Kennen Sie Tübingen?“ bedurft hätte – hier war er.

03.08.2016

Von Peter Ertle

Nanu, eine Großkundgebung auf einer Demo? Nein, „Kennen Sie Tübingen?“, mit einer mobilen Lautsprecheranlage ausgerüstet, macht sich auf den Weg.Bild: Metz

Nanu, eine Großkundgebung auf einer Demo? Nein, „Kennen Sie Tübingen?“, mit einer mobilen Lautsprecheranlage ausgerüstet, macht sich auf den Weg.Bild: Metz

Tübingen. Stadtarchivar Udo Rauch eröffnete den Ausblick mit dem Landgericht, streifte die Unrechtsurteile, die dort unter dem NS-Regime gesprochen wurden, um dann sein Hauptaugenmerk auf unheimliche Kontinuitäten zu legen. Zum Beispiel: 81,5 Prozent der Landgerichts-Richter zu Beginn der 50er Jahre waren dies auch in der NS-Zeit. Und der Paragraph 175, unter dem im Nationalsozialismus Schwule verurteilt wurden, hielt sich noch in der Bundesrepublik lange.

Mit einer Porträtskizze zweier aufgrund ihrer Homosexualität hier im 3. Reich verurteilter Männer bekam das Kapitel Landgericht zwei Gesichter, zwei Schicksale. Übrigens wurde der Paragraph 175 erst 1994 ganz abgeschafft, die DDR hatte beim Wiedervereinigungsvertrag darauf bestanden – hier war sie also fortschrittlicher als die BRD. Die in der NS-Zeit verurteilten Homosexuellen wurde inzwischen rehabilitiert. Wer in der Bundesrepublik aufgrund des Paragraphen 175 rechtskräftig schuldig gesprochen wurde, gilt bis heute als vorbestraft. Minister Heiko Maas ist derzeit dabei, einen Gesetzesvorschlag zur Änderung dieser Ungeheuerlichkeit zu unterbreiten.

Blick hinüber zur Alten Anatomie: Hier wurden mehr als 500 Menschen, die dem NS-Terror zum Opfer fielen, obduziert und teils für Forschungszwecke frei gegeben. Weil oft die Todesursache und manchmal sogar die Namen fehlen, ist die Aufarbeitung, die in den 80er Jahren begann, schwierig. Immer wieder mal kommen übrigens Menschen zum Beispiel aus der Ukraine, Polen oder Russland nach Tübingen auf der Suche nach ihren Vorfahren – und bringen manchmal etwas mehr Licht ins Dunkel. Dann muss etwa ein bis dato falsch geschriebener Name auf der Tafel am Gräberfeld X geändert werden.

Den Kopf nochmal weiter gedreht zum alten Gerichtsgefängnis: Dort fand 1949, kurz vor Inkrafttreten des Grundgesetzes, die letzte Hinrichtung in Westdeutschland statt. Richard Schuh hatte aus niederen Beweggründen einen Raubmord begangen. Vor etlichen Jahren tauchte bei Udo Rauch seine in den USA lebende Tochter auf, auf den Spuren ihres Vaters – und erfuhr erst hier von seinem Schicksal.

Eigene Sternwarte

im Garten

Vom Landgericht aus setzte sich der Tross in Bewegung, hoch zur Doblerstraße, damals Kaiserstraße, zum heutigen Sitz des Institut Culturel. Es gehörte, so übernahm nun Kulturamtsleiterin Dagmar Waizenegger das Mikrophon, der Sängerschaft Zollern, einer von 35 Verbindungen Tübingens, die 1935 verboten wurden. Oberbürgermeister Scheef protestierte und mahnte den wirtschaftlichen Schaden der Stadt an, allein es half nichts. Die Verbindungshäuser wurden meist zu Zentren der NS-Parteiorganisation, in diesem Fall wurde ein Luftschutzwarndienst eingerichtet. 1946 kam es dann unter französische Verwaltung und wurde Zentrum für Sprachkurse, Umerziehung, Bildung. Der Beginn des heutigen Instituts.

Durch enge Treppchen ging es nun weiter hinauf in die Hauffstraße, in den Garten eines von drei Leibnizhäusern. Dort hatte Udo Rauch eine tolle und großteils selbst recherchierte Geschichte zu erzählen: Denn hier, in einem wunderschönen Anwesen am Hang, wohnte Hans Rosenberg, ein jüdischer Physiker, der eine eigene Sternwarte in seinen Garten bauen ließ – von der heute leider nichts mehr da ist. 1912 wurde ihm dann die Verwaltung der Sternwarte auf dem Nordostturm des Schlosses übertragen, vier Jahre später erhielt er eine außerordentliche Professur.

Wo SS-Bräute zum

Unterricht gingen

Aber bevor es weitergeht in der Biographie schnell ein Blick in Rosenbergs illustre Verwandtschaft: Sein Vater war Bankdirektor der Berliner Handelsgesellschaft – damals eine der fünf größten Banken – und Finanzier der andalusischen Eisenbahn. Die Großmutter: Hedwig Dohm. Die Cousine: Katja Mann. Die Mutter wiederum die Schwester des Schriftstellers Rudolf Borchardt. 1926 wurde Rosenberg als Professor nach Kiel berufen. Nach der Machtergreifung wurde ihm das Leben und Lehren schwer gemacht. Nach einer Gastprofessur in Chicago erhielt er 1938 einen Lehrauftrag in Istanbul. Übrigens ist im elterlichen Haus Rosenbergs, in der Tiergartenstraße 19 in Berlin heute die türkische Botschaft, was – wie auch Rosenbergs Stelle in Istanbul – um ein paar Ecken herum immer noch mit der Finanzierung der anatolischen Eisenbahn zu tun haben dürfte.

Der Tross zog weiter, zum Haus der Normannia, dem größten Privatgrundstück Tübingens, das nach dem Verbot der Verbindungen zur 1. NS-Bräuteschule wurde. Frauen von SS-Männern wurden hier mit Haushaltsführung, Säuglingspflege, Erbhygiene und dergleichen auf ihre Rolle als Ehefrau und Mutter vorbereitet. Nach dem 2. Weltkrieg wurde das Gebäude von der Normannia zurückgekauft.

Da es bis zur Scheefstraße zu weit gewesen wäre, referierte Dagmar Waizenegger den Stand der Dinge in Sachen Aberkennung der Ehrenbürgerauszeichnung sowie der Umbenennung der Scheefstraße in Fritz-Bauer-Straße. Und Udo Rauch beleuchtete die Tübinger Vorfahren Fritz Bauers und zitierte aus jenem ergreifenden Brief Bauers aus dem dänischen Exil, in dem sich Bauer an seine Kindheitsbesuche bei den Großeltern in der Tübinger Kronenstraße erinnert.

Weiter gings zur Villa Bernheim, mancher unter den älteren Rundgangteilnehmern schnaufte inzwischen – trotzdem ging niemand. Und alle Autos, die vorbeifuhren, verlangsamten ihr Tempo, die Insassen glotzten. Es stehen sonst nicht 300 Menschen an der Stauffenbergstraße herum.

Haus verschleudert,

Möbel beschlagnahmt

Die Bernheims also, erste jüdische Familie Tübingens, die es in so eine noble Wohngegend schaffte, mit weniger guten, aber auch wunderbaren Nachbarn wie den Verlegern Siebeck. 1939 mussten die Bernheims die Villa zu einem Schleuderpreis verkaufen, praktisch eine Enteignung, sie flüchteten in die USA, wobei in Hamburg ihre zum Verladen nach Übersee verschickten Möbel beschlagnahmt wurden. Im Prinzip sind das alles Geschichten, die eine eigene Veranstaltung, einen eigenen Artikel vertrügen, das TAGBLATT hat vieles davon auch schon beschrieben, die Aufzeichnungen Hanna Bernheims wiederum liegen als Buch vor. Veranstaltungen wie diese halten solche Geschichten aber gegenwärtig – ein nicht zu unterschätzendes Verdienst dieser Reihe.

Schlusspunkt der Wanderung war das Haus des Corps Rhenania – wo dann wesentlich mehr Blicke auf das Nachkiegsleben als auf die NS-Zeit geworfen wurden. Denn hier residierte der französische Gouverneur, der Gästen gerne mal einen der Rhenania-Bierkrüge als Geschenk überreichte. Nach zwei Stunden Rundgang gönnten sich viele noch den schönen Ausblick hinterm Haus der Rhenania übers Tal, bevor sie den Nachhauseweg antraten.