Tübingen

Schulbeginn um zehn vor acht ist für viele zu früh

Landesverkehrsminister Winfried Hermann will den Unterricht später und gestaffelt beginnen lassen. Wie reagiert man in Tübingen auf diesen Vorstoß?

13.06.2019

Von Lorenzo Zimmer

Rush Hour in der Uhlandstraße: Um 7.25 Uhr ist auch ihre westliche Einfahrt ein belebter Verkehrsknoten.Archivbild: Lisa Maria Sporrer

Rush Hour in der Uhlandstraße: Um 7.25 Uhr ist auch ihre westliche Einfahrt ein belebter Verkehrsknoten.Archivbild: Lisa Maria Sporrer

Wer sich in den Morgenstunden zwischen 7.15 und 8 Uhr im Dreieck des Tübinger Europaplatzes, der Neckarbrücke und dem westlichen Ende der Uhlandstraße bewegt, dem bietet sich ein lebhaftes Bild. Ganze Horden von Schülern eilen zu ihren Bildungsanstalten, radeln, den schweren Ranzen auf dem Rücken, durch die Straßen, drängen sich dicht in Bussen und Bahnen und strömen über verschiedene Einfallswege durch Anlagenpark, Uhlandstraße und Schlossbergtunnel. Einige werden von Mutter oder Vater mit dem Auto abgesetzt. Ähnliche Szenen spielen sich am südlichen Schulzentrum, dem Feuerhägle in Derendingen und um die Geschwister-Scholl-Schule in Tübingens Norden ab.

Dabei haben die Augen der auf dem Schulweg befindlichen Schülerinnen und Schüler an allen genannten Orten etwas gemeinsam: Sie sind noch etwas trüb, darunter zeichnen sich oft Augenringe ab. Die Glieder der Kinder und Jugendlichen wirken schlaff und müde – kaum eine und einer von ihnen scheint auf dem Höhepunkt seiner Tagesenergie angekommen.

Dass dieser Anblick kaum verwunderlich ist, merken Schlaf-Forscher, ihre fachverwandten Kollegen aus der Chronobiologie und Mediziner bereits seit Jahren an (siehe Infokasten). Dieser Haltung, die auf wissenschaftlicher Bühne als herrschende Meinung gilt, hat sich nun Landesverkehrsminister Winfried Hermann angeschlossen. Der Grünen-Politiker forderte gegenüber der SÜDWEST PRESSE: „Die Schulen sollten zum Teil später anfangen und vor allem gestaffelt.“ Diesen politischen Vorstoß für einen späteren Schulbeginn begründete Hermann nicht nur mit entstehenden Vorteilen für den Biorhythmus der Schüler, sondern auch verkehrstechnisch. „Wir müssen es schaffen, unsere Transportkapazitäten effizienter und zeiteffektiver zu nutzen“, so der Minister.

Umfrage

Spielt die Uhrzeit des Unterrichtsbeginns bei der Auswahl der Schule für Ihre Kinder eine Rolle?

26 %
Ja, ich würde eine Schule mit früherem Unterrichtsbeginn (zwischen 7 und 8 Uhr) bevorzugen.
58 %
Ja, ich würde eine Schule mit späterem Unterrichtsbeginn (zwischen 8 und 9 Uhr) bevorzugen.
16 %
Nein, der Unterrichtsbeginn ist bei der Schulwahl für mich Nebensache.
385 abgegebene Stimmen

Seine Rechnung ist eine einfache: Wenn 20 Busladungen Schüler gesammelt um 8 Uhr an ihrer Schule sein müssen, braucht der Anbieter des Öffentlichen Nahverkehrs 20 Busse, um sie zu transportieren. Müssen 10 von ihnen um 8.30 Uhr an der Schule sein und die anderen 10 Busladungen um 9 Uhr, braucht man nur die Hälfte der Busse, weil man sie nacheinander nutzen kann. Die Folgen: Weniger Busse auf den Straßen, also weniger Verkehrsaufkommen, weniger Umweltbelastungen und obendrauf weniger Kosten für den Busbetrieb.

Stefan Meißner, Pressesprecher für das Thema Gymnasiale Bildung am Tübinger Regierungspräsidium (RP), findet den Gedanken des Verkehrsministers „durchaus gut“. Er macht im Gespräch aber auch deutlich, dass das Regierungspräsidium für eine solche Entscheidung, den Schulbeginn zu verlegen, nicht zuständig ist. „Den Beginn legt die Schulkonferenz der jeweiligen Schule selbst fest“, so Meißner. So bleibe es also jeder Bildungsanstalt überlassen, wann sie mit den Unterrichten beginnt. Ihre Konferenz setzt sich aus Vertretern der Eltern, Lehrer, Schüler und der Schulleitung zusammen. „Es gibt einen Erlass, der festlegt, wie viel Pflichtunterricht an welchen Schultypen stattfinden muss, welche Inhalte vermittelt werden müssen und dass der Schulfrieden gegeben sein muss.“ Doch zu welchen Zeiten die Schulen ihren Unterricht anbieten, „entscheidet theoretisch eben jede Schule ganz alleine “, so Meißner.

Schüler wurden relevante Größe

Und fügt hinzu: „Ich sage theoretisch, weil die Dinge in der Praxis eben etwas konkreter sind.“ So sei das gegenwärtige zeitliche System des Schulbeginns in Tübingen über Jahre gewachsen und mittlerweile eingespielt. „Diese eingespielten Abläufe stammen aus einer Zeit, zu denen morgens fast jeder Arbeiter zeitgleich zur Schicht bei seiner Firma musste.“ Im Hinblick auf die Schüler habe man dann geschaut, wann die Schichten begannen – zu diesen Zeiten fuhren viele Busse. „So hat man die Schüler sozusagen dazugesetzt“, so Meißner.

Doch die Lage habe sich über die Jahrzehnte geändert. „Der Individualverkehr hat zugenommen, heute fahren viele mit dem Auto oder dem Fahrrad zur Arbeit.“ Dabei seien die Schüler mehr und mehr zur relevanten Größe geworden. Meißner: „So relevant, dass der Verkehrsminister sagt, dass es sinnvoll wäre, die Zeiten zu staffeln.“

Doch die von Hermann angestrebte Veränderung könnte aus Meißners Sicht nicht nur für den Verkehr sinnvoll sein. „Was den Biorhythmus angeht, sind die Argumente ja voll auf seiner Seite.“ Dennoch sieht der Experte für Gymnasien auch Gegenargumente: „Mit einer Veränderung des Schulbeginns würden sie die Leben der Eltern, Lehrer und Schüler ganz schön durcheinander bringen. Denn nach der Schule wollen ja alle noch ins Ballett, zur Klavierstunde oder auf den Fußballplatz“, so Meißner. So spiele die Kompatibilität mit dem Familienleben bei Überlegungen zum Schulbeginn „immer auch eine gewisse Rolle“.

Wenn die Schule später beginnen solle, müsste die Umstellung synchronisiert für alle Schulen einer Schulart gelten. „Sonst werden einzelne Schulen bevorzugt, weil sie früher oder später anfangen“, meint Meißner. Beispiele für einen späteren Schulbeginn gebe es indes genug. „In Norwegen fangen die Schulen landesweit um 9 an.“ Das könnte man durchaus auch in Deutschland so machen. „Die Schulen hätten dazu die Freiheit, aber bisher macht es eben keiner.“

Eltern-Taxis sind ein Problem

Am Uhland-Gymnasium, wo Andrejs Petrowski Rektor und zugleich geschäftsführender Schulleiter aller Tübinger Gymnasien ist, beginnt der Unterricht wie in der ganzen Uhlandstraße um 7.50 Uhr. Petrowski hält einen späteren Schulbeginn zumindest im Hinblick auf den Biorhythmus seiner Schülerinnen und Schüler für „sinnvoll“. Er kennt aber auch die mit dem Schulbeginn verbundenen organisatorischen Fragen. „In Tübingen gibt es im Moment mehrere Uhrzeiten“, sagt der Rektor. So beginne das Carlo-Schmid-Gymnasium etwas früher als die anderen – um 7.40 Uhr – und die Geschwister-Scholl-Schule etwas später – um 8 Uhr. „Es werden Busse von der Südstadt über das Feuerhägle zur GSS eingesetzt“, so Petrowski. „Das sind zum Teil die gleichen Busse, die die Schulen bedienen, deshalb ist der Beginn der jeweiligen Schulen leicht versetzt.“

Tübingens Schulbürgermeisterin Daniela Harsch bringt noch einen anderen Aspekt ein: „Grundsätzlich ist das Thema bei uns bisher nicht Gegenstand umfangreicher Diskussion. Statt ÖPNV stellen uns eher die ,Eltern-Taxis‘ vor eine größere Herausforderung.“ Zudem sei das Thema Unterrichtsbeginn auch an Grundschulen immer wieder in der Diskussion. „Die Schulen halten unseres Wissens 8 Uhr für einen guten Unterrichtsbeginn.“ Bei diesem Thema gehe es jedoch, so Harsch, immer auch um die Betreuung der Kinder der oft berufstätigen Eltern. „Für uns geht es auch darum, wie für Familien möglichst ab 7 Uhr eine städtische Frühbetreuung zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf angeboten werden kann.“

Wäre ein späterer Schulbeginn gerechter? Eine Stimme aus der Wissenschaft

Corina Weidenauer. Bild: Friedhelm Albrecht/Universität Tübingen

Corina Weidenauer. Bild: Friedhelm Albrecht/Universität Tübingen

Corina Weidenauer forscht als Psychologin am Tübinger Lehrstuhl Biologische Didaktik von Prof. Christoph Randler im Bereich der Chronobiologie. Sie lobt den Vorstoß des Landesverkehrsministers Winfried Hermann: „Es wäre für die Schülerinnen und Schüler definitiv von Vorteil, wenn die Schule später anfangen würde.“

So könnten aus ihrer Sicht schulische Leistungen fächer- und schülerübergreifend gesteigert werden. Wie stark der Effekt wäre , liege vor allem am individuellen Chronotypen des jeweiligen Schülers: „Einfach erklärt gibt es zwei Extreme: eine Lerche und eine Eule – eher den Abend- oder den Morgenmenschen“, so Weidenauer.

Diese innere Präferenz einer Tageszeit wandele sich jedoch während der Pubertät: „Bei Mädchen etwa im Alter von 15 Jahren und bei Jungs im Alter um die 17 Jahre beginnt sich dieser Chronotyp zu verändern, nach hinten zu verschieben“, so die Psychologin weiter. „Von einer Morgenorientierung zu einer Abendorientierung.“

Dies führe dazu, dass sich Jugendliche mit dem Beginn ihrer Pubertät morgens wegen starker Müdigkeit nicht so gut konzentrieren können. „Diese Erkenntnisse werden seit Jahrzehnten bei verschiedensten Studien gewonnen und gelten mittlerweile als sicher.“ So beschäftige sich ihr Doktorvater Prof. Randler bereits seit vielen Jahren mit dem Thema: „Es gibt zum Beispiel Studien, die klar zeigen, dass Schüler, die eher abendorientiert leben, im Durchschnitt deutlich schlechter in der Schule abschneiden.“

Studien an Gymnasien hätten etwa gezeigt, so Weidenauer, dass die Orientierung zum Abend hin für diese Schüler, die sehr früh zur Schule müssen, ein um rund eine halbe Note schlechteres Abitur bedeuten könne: „Bei der gegenwärtigen Organisationsweise der schulischen Uhrzeiten haben Abendmenschen deutliche Nachteile gegenüber ihren morgenorientierten Klassenkameraden.“

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Erstellt:
13.06.2019, 01:30 Uhr
Lesedauer: ca. 5min 02sec
zuletzt aktualisiert: 13.06.2019, 01:30 Uhr

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