Stuttgart

1. Länderspiel nach dem Krieg: Heißhunger auf Fußball

Vor 70 Jahren fand in Stuttgart das erste Länderspiel nach dem Krieg statt. 115 000 Zuschauer sahen im Neckarstadion das 1:0 gegen die Schweiz.

25.11.2020

Von GEROLD KNEHR

Mit viel Text und kleinem Bild berichtete die Schwäbische Donauzeitung, der Vorläufer der SÜDWEST PRESSE, über das erste Nachkriegsländerspiel in Stuttgart 1950. Oben rechts ist Herbert Burdenskis Elfmetertor zu sehen.

Mit viel Text und kleinem Bild berichtete die Schwäbische Donauzeitung, der Vorläufer der SÜDWEST PRESSE, über das erste Nachkriegsländerspiel in Stuttgart 1950. Oben rechts ist Herbert Burdenskis Elfmetertor zu sehen.

Stuttgart. Das Wehklagen ist groß. Corona-bedingt dürfen Amateure derzeit keinen Mannschaftssport ausüben. Die Profis dürfen zwar spielen, aber ohne Zuschauer.

Dennoch müssen die Sportfans nicht darben. Vor allem im Fußball wird nahezu jedes professionelle Spiel heutzutage irgendwo übertragen. Im Fernsehen, im Internet, in Livestreams, oftmals gegen Gebühr. Wer will, kann sich nahezu den ganzen Tag sportlich berieseln lassen. Fußball satt auf vielen Kanälen.

Das war nicht immer so. Nach dem Zweiten Weltkrieg lag Deutschland in Trümmern. Fünf Jahre lang war König Fußball vom internationalen Parkett verschwunden.

Verletzte im Neckarstadion

Bis zum November 1950. Am Buß- und Bettag fand in Stuttgart das erste Fußball-Länderspiel nach dem Krieg statt. Wieder einmal standen die Schweizer als Wiederaufbauhelfer bereit – wie schon nach dem ersten Weltkrieg. Im September 1950 waren es ebenfalls in erster Linie die Eidgenossen gewesen, welche dem Deutschen Fußball Bund die Rückkehr in die Fifa erst ermöglicht hatten.

Und nun also das erste Länderspiel nach acht Jahren Pause. Die sportentwöhnten, ausgehungerten Fans strömten an diesem neblig-trüben Herbsttag in Massen nach Stuttgart, 30 Sonderzüge aus allen Richtungen karrten die Fans in den Hauptbahnhof. 96?000 Tickets hatte der DFB für diese Partie verkauft. Doch tatsächlich waren es 115?000 Zuschauer – andere Schätzungen gingen sogar noch darüber hinaus – die sich ins mit Stahlrohrtribünen erweiterten Neckarstadion drängten, über Absperrungen kletterten oder unter Zäune schlüpften. Im Streit um die besten Stehplätze kam es zu Tumulten. Der englische Schiedsrichter Arthur Ellis wollte zunächst nicht anpfeifen, weil die Massen bis zum Spielfeldrand standen. Gab es Eckball, mussten die Zuschauer an der Eckfahne einen Schritt zurücktreten.

Weil Deutschland noch keine Nationalhymne hatte, begann das Spiel mit einer ergreifenden Schweigeminute. „Totenstille herrscht im weiten Rund der 115?000, die entblößten und gesenkten Hauptes dastanden“, schrieb das Sport Magazin.

Aber wo war Publikumsliebling Fritz Walter? Der hatte über Schmerzen im Bein geklagt. „Fritz, trete Sie mal gegen de Schreibtisch“, hatte Sepp Herberger befohlen. Walter tat, wie ihm geheißen. Wieder Schmerzen. „Dann geht's net“, diagnostizierte der Bundestrainer.

Das Spiel litt unter den schlechten Bedingungen. Der Rasen des Neckarstadions wurde von Minute zu Minute mehr und mehr zum Matschplatz. In der 42. Minute wehrte ein Schweizer Abwehrspieler einen Ball von Ottmar Walter mit der Hand ab – Elfmeter. Keiner machte Anstalten, ihn treten zu wollen. Alle schauten auf Verteidiger Herbert Burdenski. Er musste hinterher oftmals erzählen, wie ihm das einzige Tor an diesem Tag gelungen war. „Wir hatten ja Schlamm an diesem Tag, Knietief. Da kannst beim Elfer nicht groß Anlauf nehmen, sonst bleibst nämlich stecken. Also: Ich bück mich, leg den Ball hin, zwei Schrittchen, Augen zu – und drauf!“

Das erste Spiel nach dem Krieg gewann die deutsche Auswahl mit 1:0. Torhüter Toni Turek, Max Morlock und Ottmar Walter, die in Stuttgart spielten, waren beim WM-Triumph dreieinhalb Jahre später in Bern noch dabei. In Stuttgart ist der Nationalelf der erste Schritt zum historischen Triumph gelungen.

Der Berichterstatter der Schwäbischen Donauzeitung, dem Vorläufer der SÜDWEST PRESSE, verließ Stuttgart mit zwiespältigen Eindrücken. „Einen solchen Abmarsch gab es noch nie. Hunderttausend drängten durch viel zu enge Pforten auf verstopfte Straßen. Der Dreck spritzt bis in die Gesichter, man stößt und stemmt. Autos hupen im Chor, es wälzt sich ein zusammengeballter Haufen Richtung Stadt. Mit Mühe und Not – ohne Mantelknöpfe – sind wir entronnen. Schade, das Spiel war schön, die Organisation aber ließ viel zu wünschen übrig. Aber wir lernen es ja sicher wieder!“ In Stuttgart waren 72 Unfälle mit 240 verletzten Zuschauern zu beklagen.

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Erstellt:
25.11.2020, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 53sec
zuletzt aktualisiert: 25.11.2020, 06:00 Uhr

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