Regierungsbildung

Sondierungen: „Die Schraube ist gerade gesetzt “

Grüne und FDP zeigen sich nach einem Gespräch in größerer Runde optimistisch. Vorbild könnten Koalitionen in den Ländern werden.

02.10.2021

Von DOROTHEE TOREBKO UND IGOR STEINLE

Christopher Vogt führt die FDP-Fraktion im Kieler Landtag. Dort regiert ein Jamaika-Bündnis. Foto: Carsten Rehder/dpa

Christopher Vogt führt die FDP-Fraktion im Kieler Landtag. Dort regiert ein Jamaika-Bündnis. Foto: Carsten Rehder/dpa

Berlin. Schon der Ort des Treffens soll einen Neuanfang signalisieren. Nicht vor gewohnter Kulisse des Regierungsviertels, sondern vor der Drehtür eines Bürogebäudes gleich neben dem Berliner Zoo. Wo normalerweise junge Start-up-Gründer unter orangeroten Leuchten ihren Geschäften nachgehen, trafen sich am Freitag die Spitzen von Grünen und FDP, um über die Zukunft des Landes zu beraten. Grünen-Co-Chefin Annalena Baerbock setzte den Ton, als sie von einem „historischen Moment“ sprach. Es sei nun nicht mehr Zeit für eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners, sondern für einen „wirklichen Aufbruch“.

Anders als beim letzten Treffen, als sich lediglich Baerbock, Grünen-Co-Chef Robert Habeck, der FDP-Vorsitzende Christian Lindner und sein Generalsekretär Volker Wissing trafen, wurde über dieses „Neue“ nun erstmals in größerer Delegation beraten. Über Inhalte schwieg man sich weiter aus, Lindner verriet allerdings, dass Klimapolitik und Finanzen eine Rolle gespielt hätten. Eine endgültige Klärung bei diesen zwischen den Parteien strittigen Themen wurde vorerst nicht gefunden, die Gespräche sollen fortgesetzt werden. Habeck, der die Sondierungen mit einer Schraube verglich, ist optimistisch: Wenn man eine solche schräg einsetze, werde sie nie wieder gerade. „Diese Schraube ist jedenfalls in den ersten Tagen sehr gerade eingesetzt worden.“

Dass tatsächlich etwas in Bewegung scheint, zeigte am Freitag, dass die Grünen selbst bei einem Leib- und Magenthema wie dem Tempolimit Kompromissbereitschaft zeigen. Er halte nichts davon, einzelne Themen zur Bedingung zu machen, sagte Grünen-Politiker Anton Hofreiter.

Nach wie vor ungewiss bleibt, wann die Sondierungen zu dritt oder viert geführt werden – und mit wem. Auf die Frage, welche Mutter zur erwähnten Schraube passe, witzelte Habeck: „Spax-Schrauben brauchen keine Mutter“ – in Anspielung an die bekannten Holzschrauben.

Dass ein Bündnis mit CDU und CSU, die offensichtlich selbst Sondierungsbedarf untereinander haben, immer unrealistischer wird, zeigen die Terminfindungsschwierigkeiten innerhalb der Union. „Die Wahrscheinlichkeit, dass es eine Ampel geben wird, ist nicht nur offenkundig, sondern sehr groß“, sagt selbst Unionsfraktionsvize Carsten Linnemann. Aus der Hand geben wollen Grüne und FDP dieses Druckmittel gegen die SPD allerdings auch nicht.

Bemerkenswert ist nach wie vor auch die Verschwiegenheit, mit der alle Beteiligten an die Gespräche herangehen. Die Teilnehmer scheinen damit aus den gescheiterten Sondierungsgesprächen vor vier Jahren gelernt zu haben – und sich an den Koalitionsverhandlungen in Bundesländern wie Rheinland-Pfalz oder Schleswig-Holstein zu orientieren, wo Grüne und FDP mitregieren. In Mainz und Kiel wurde im Grunde genommen die Blaupause gezeichnet, wie solche Verhandlungen gelingen können.

Keiner der in Schleswig-Holstein an den Runden beteiligten Politiker habe je etwas durchsickern lassen, erklärt Hans-Jörn Arp das Erfolgsrezept der dortigen Jamaika-Koalition, „auch nicht in größeren Runden“. Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU-Fraktion betont, dadurch sei das Vertrauensverhältnis aller Verhandlungspartner intakt geblieben. „Es ist wie in Geschäftsbeziehungen“, sagt er: Wer sich einander nicht über den Weg traue, könne auch keine Koalition miteinander bilden. Die Frage ist allerdings, ob eine solche Diskretion in Berlin lange aufrechterhalten werden kann, wo undichte Stellen aufgrund der höheren Anzahl Beteiligter sehr viel leichter auftreten können. In Kiel hingegen funktioniert das Bündnis noch immer relativ geräuschlos, wie auch politische Beobachter bestätigen.

Das sei nur möglich, weil die einzelnen Parteien bereit seien, den Partnern Erfolg zuzugestehen. So hätten die Grünen akzeptiert, dass die FDP Autobahnen baut, wohingegen sie jede Menge Geld für den Kita-Ausbau erhielten. Die CDU musste in den sauren Apfel beißen und einem Abschiebestopp in manche Drittländer zustimmen, wofür die Grünen ein Abschiebegefängnis hinnehmen mussten. „Es ist wichtig, sich nicht zu neutralisieren wie in der Großen Koalition, sondern einander Erfolge zu gönnen“, sagt Christopher Vogt, der die FDP-Fraktion in Kiel anführt. Allein deswegen, weil alle Parteien ihre Verhandlungsergebnisse später den eigenen Mitgliedern zur Abstimmung vorlegen müssten.

Die Kunst, so Vogt, sei es, eine gemeinsame Vision fürs Land zu entwickeln, und trotzdem allen Beteiligten Raum zu lassen, sich selbst zu profilieren. Als Glücksfall hierfür hat sich Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) erwiesen, der die Gespräche so moderiert hat, dass alle Luft zum Atmen hatten und sich „gesehen fühlten“, wie Arp beschreibt.

Ähnliches wird über Günthers Amtskollegin Malu Dreyer (SPD) in Rheinland-Pfalz berichtet, die in Mainz eine Ampel-Koalition anführt. Ob Olaf Scholz über ähnliche Qualitäten verfügt, bleibt abzuwarten. Dem „Spiegel“ sagte er schon mal: „Echte Zuneigung entsteht, wenn man sich ernsthaft aufeinander einlässt.“

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Erstellt:
02.10.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 14sec
zuletzt aktualisiert: 02.10.2021, 06:00 Uhr

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