Systemsprenger

Systemsprenger

Eine Neunjährige vergrault eine Pflegefamilie nach der anderen und will einfach nur bei ihrer Mutter leben. Doch die hat Angst vor ihrem eigenen Kind.

18.09.2019

Von Madeleine Wegner

Mit Benni kommt keiner klar. Wenn Benni austickt, dann brennen alle Sicherungen bei ihr durch. Dann wirft sie mit Spielzeug um sich, sodass sogar das Sicherheitsglas Risse bekommt. Dann prügelt sie auf andere Kinder ein, bis Blut fließt. Dann bedroht sie ihre Betreuer mit einem großen Küchenmesser. Dann verschwimmt die Welt plötzlich hinter einem lauten, rosaroten Schleier.

Benni heißt eigentlich Bernadette, aber das klingt „zu tussig“, findet die Neunjährige. „Weil ich immer so austicke, darf ich nicht zu Mama“, weiß Benni. Und doch wünscht sie sich nichts sehnlicher, als zurück nach Hause zu gehen. Stattdessen tickt sie immer wieder aus, reißt aus, fliegt immer wieder von der Schule und kommt wegen ihrer Anfälle in die Kinderpsychiatrie. Keine der Schulen, keines der Heime, keine Familie will das scheinbar unberechenbare Mädchen aufnehmen. Für die meisten anderen Einrichtungen ist sie noch zu jung. „Systemsprenger“ ist die inoffizielle Bezeichung für solche Kinder, die überall rausfliegen.

Es ist erstaunlich, beeindruckend und zutiefst berührend, was Nora Fingscheidt mit ihrem Spielfilmdebüt gelungen ist. Zuvor hatte sie unter anderem einen Dokumentarfilm über eine fundamentalistische-christliche Sekte in Argentinien gedreht. Für ihren ersten Spielfilm hat sie mehrere Jahre recherchiert. Sie hat in einer Wohngruppe gelebt, in einer Schule für Erziehungshilfe, einer Inobhutnahmestelle und einer Kinderpsychiatrie mitgearbeitet sowie zahlreiche Gespräche geführt.

Fingscheidt klagt nicht fingerzeigend an. Sie taucht ein in die Welt eines Kindes, das nicht nur zum „Problemfall“ seiner Familie, sondern zum Problem der Gesellschaft wird. Ein Kind, das manche am liebsten wegsperren würden, weil es gefährlich werden kann und weil es nirgendwo hinzupassen scheint. Ein Kind, das man am liebsten in den Arm nehmen und beschützen möchte. Benni ist ein Kind, das jeden in den Bann zieht.

Der Film lebt von komplexen, menschlichen Figuren und von komplexen Beziehungen, ohne jemals plakativ zu werden. Überragend und geradezu unglaublich spielt Helena Zengel die Benni. An ihrer Seite überzeugen jedoch auch Lisa Hagmeister als ebenso liebevolle wie überforderte Muter, Gabriela Maria Schmeide als herzensgute Betreuerin und, allen voran, Albrecht Abraham Schuch als Anti-Aggressionstrainer Micha, der es wagt, mit dem Mädchen drei Wochen allein im Wald zu verbringen – eine letzte Chance für das „Problemkind“.

Bereits mehrfach ausgezeichnet, gilt der Spielfilm mittlerweile als deutscher Oscar-Kandidat (Kategorie „Bester internationaler Spielfim“).

Gegen dieses Kind kann man sich nicht wehren. Es zeigt eine beklemmende Welt, die verstört, beunruhigt und berührt.

Systemsprenger