Persischstunden

Persischstunden

Um dem Tod zu entgehen, muss Gilles dem Lagerkommandanten Farsi beibringen - ohne selbst ein Wort zu beherrschen.

24.09.2020

Von Madeleine Wegner

Persischstunden

Vier Wörter am Tag, sechs mal die Woche, das macht 1248 Vokabeln innerhalb eines Jahres. Klaus Koch ist ein gut organisierter Mann. Er hat ein Ziel: Er will Farsi lernen, um in zwei Jahren – wenn der Krieg vorbei ist – in Teheran ein deutsches Restaurant zu eröffnen. Koch ist Kommandant in einem Durchgangslager irgendwo in Deutschland. „Ich bin nur Koch“, wird er später behaupten.

Tatsächlich ist Klaus Koch SS-Hauptsturmführer, als Leiter der Lagerküche ist er für die Verpflegung zuständig. Zehn Dosen Fleisch hat er demjenigen versprochen, der ihm einen „echten Perser“ bringt. Das kann der junge jüdische Belgier Gilles kaum ahnen, als er zusammen mit anderen Gefangenen erschossen werden soll und aus Verzweiflung ruft: „Ich bin kein Jude! Ich bin Perser!“

Die SS-Schergen glauben ihm nicht, führen ihn mit Blick auf den versprochenen Lohn dennoch in Kochs Büro. Gilles soll dem cholerischen Kommandanten eine Sprache beibringen, die er selbst nicht beherrscht. Also denkt er sich jeden Tag neue Wörter aus. Ohne Blatt und Papier muss er sich den ernormen Wortschatz besonders gut einprägen. Jedes falsche Wort könnte ihn verraten und seinen Tod bedeuten.

Regisseur Vadim Perelmann wurde als Kind jüdischer Eltern in Kiew geboren. Mit „Persischstunden“ hat er – angelehnt an Wolfgang Kohlhaases Novelle „Erfindung einer Sprache“ – ein Herzensprojekt umgesetzt und ein Drama geschaffen, das voller starker Bilder und Metaphern steckt: Wenn Koch das Brot mit blutigen Händen serviert, nachdem er Gilles halb tot geschlagen hat. Die eigene, konstruierte Welt im Kopf und höchste geistige Anstrengung, um in so einer unmenschlichen Umgebung zu überleben. Es ist ein Rückzugsort, der volle Aufmerksamkeit verlangt, und gleichzeitig eine Verbindung zu den anderen ermöglicht: Gilles entwickelt fiktive Farsi-Worte aus den Namen der Gefangenen und nutzt diese als Gedächtnisstütze. Es ist ein Plädoyer für die Erinnerung als unabdingbare Notwendigkeit. Kann es überhaupt Verständigung, Verstehen und Verständnis in so einer Umgebung und in solchen sadistischen Machtverhältnissen geben?

Zugleich bietet die fremde Sprache auch Koch eine Möglichkeit, aus seiner persönlichen Realität auszubrechen. Lars Eidinger geht erschreckend überzeugend in seiner Rolle als SS-Hauptsturmführer auf. Zwischen Eidinger und dem Argentinier Nahuel Perez Biscayart, der eindringlich Gilles verkörpert, entwickelt sich eine bemerkenswerte Chemie. Die Beziehung der beiden Figuren ist fragil, sie bedeutet vor allem für Gilles Schutz und Gefahr zugleich.

Die Gefangnenen im Lager sind in diesem Film selten mehr als Statisten. Auch erfährt man deutlich mehr über die Täter als über diejenigen, die unter dem Machtmissbrauch leiden. Perelmann fordert geradezu ein Verständnis ein für die Menschen, die in den SS-Uniformen stecken. Das mag man dem Film vorwerfen.

Perelmanns Fokus liegt vielmehr im Sinne eines Kammerspiels auf der äußerst heiklen und ambivalenten Beziehung zwischen dem einen Täter und dem einen Opfer. 25 000 bis 30 000 Menschen sieht Gilles das Lager passieren. Dank seiner erfundenen Sprache erinnert er sich und kann 2840 beim Namen nennen.

Legt als kammerspielartiges Drama mit starker Besetzung den Fokus auf eine konkrete Täter-Opfer-Beziehung.

Persischstunden

Zum Artikel

Erstellt:
24.09.2020, 14:48 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 34sec
zuletzt aktualisiert: 24.09.2020, 14:48 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport