Finding Vivian Maier

Finding Vivian Maier

Dokumentarfilm über eine der bedeutendsten Straßenfotografinnen der USA ?- die bis zu ihrem Tod völlig unbekannt war.

04.11.2015

Von Klaus-Peter Eichele

Die Geschichte der Lyrik musste neu geschrieben werden, nachdem im Nachlass einer unscheinbaren amerikanischen Hausfrau fast 2000 unveröffentlichte Gedichte von schierer Brillanz gefunden worden waren. Die Rede ist von Emily Dickinson (1830 bis 1886), deren Geschichte jedoch frappant jener Vivian Maiers, der Heldin dieses Dokumentarfilms, ähnelt.

120 Jahre nach Dickinsons Tod ersteigert der Heimatforscher John Maloof bei einer Lokalauktion für ein paar hundert Dollar eine Kiste mit Zehntausenden Foto-Negativen. Bereits nach oberflächlicher Sichtung ist dem jungen Mann klar: Die größtenteils in Chicago und New York entstandenen Aufnahmen sind nicht die Schnappschüsse eines Hobby-Knipsers, sondern Meisterwerke der Straßenfotografie: Die Bilder von Obdachlosen, Kindern, Liebespaaren, Arbeitern oder eleganten Damen offenbaren ein perfektes Gespür für den richtigen Augenblick. Zusammen ergeben sie eine großartige bildnerische Symphonie der Großstadt.

Mit dem Namen der Urheberin, Vivian Maier, konnten jedoch weder Google noch die konsultierten Fachkreise etwas anfangen. Tatsächlich, fand Maloof bei seinen weiteren Recherchen heraus, hat die gebürtige New Yorkerin von den wenigsten ihrer Aufnahmen Abzüge gemacht und kein einziges Bild je veröffentlicht. Vielmehr verdiente sie ihren Lebensunterhalt als Kindermädchen. Obwohl Maier nie ohne ihre Rolleiflex-Kamera aus dem Haus ging, ahnten selbst ihre wenigen Bekannten nichts von ihrer Begabung.

Maier war, kommt bei der mühsamen Spurensuche noch heraus, eine menschenscheue Einzelgängerin und ein sammelwütiger Messie. Sie war nie verheiratet, hasste Männer und starb arm und verbittert 2009 in Chicago. Nichts davon kann jedoch das Geheimnis lüften, warum sie nie auch nur den Versuch unternommen hat, mit ihren Bilderschatz an die Öffentlichkeit zu gehen. Und was aus ihr geworden wäre, wenn sie die ihr gebührende künstlerische Anerkennung gefunden hätte. In einer der wenigen überlieferten Äußerungen zu ihrem Werk hat sie sich als „eine Art Spionin? bezeichnet ? Geheimhaltung inklusive?

Was bleibt sind die Bilder, die Maloof erfreulicherweise in großer Zahl und Bandbreite im Film (bei dem er als Ko-Regisseur firmiert) präsentiert. Jedes davon beweist, dass hier nicht jemand im Eigeninteresse seinen Zufallsfund schönfilmt, sondern dass die Geschichte der Straßenfotografie des 20. Jahrhunderts wirklich neu geschrieben werden muss.

Investigative Doku über eine begnadete Fotografin ? die bis zu ihrem Tod keiner kannte.