Cocote

Cocote

Das bildgewaltige Leinwandepos ist vordergründig eine bittere Rachegeschichte – in einem Land im Würgegriff der Gewalt.

16.04.2018

Von Dorothee Hermann

Cocote

Die Dominikanische Republik ist ein beliebtes Reiseziel (Strände, Golfplätze, karibische Rhythmen). Der Regisseur Nelson Carlo De Los Santos sieht ganz andere Bilder, wenn er an sein Land denkt. In seinem Spielfilm „Cocote“ erzählt der 33-Jährige die Geschichte des Gärtners Alberto (Vicente Santos), der in der Hauptstadt Santo Domingo Dienstbote einer reichen Familie ist. Auf die Nachricht vom Tod seines Vaters kehrt er in sein Dorf zurück.

In der Provinz wartet ein doppelter Horror: Der Vater ist keines natürlichen Todes gestorben. Es war Mord (und zwar ein besonders grausamer). Für den zum evangelikalen Christentum konvertierten Sohn fast genauso schrecklich: Für den Toten soll eine neuntägige katholische Fürbitte (Novene) abgehalten werden. „Das ist ein Problem für ihn. Wegen Gott muss er sich gegen seine Familie stellen“, sagte der Filmemacher im Telefon-Interview.

Diese Form der Religion (das evangelikale Christentum) komme aus den USA, als Begleiterscheinung der US-Militärinterventionen in der Dominikanischen Republik, so De Los Santos. Die evangelikalen US-Kirchen, „Teil des Imperialismus in Lateinamerika“, machten ideologisch wie politisch Probleme: Sie seien gegen Abtreibung, gegen Homosexualität und gegen Rituale der westafrikanischen Religionen, die die Nachfahren der einstigen Sklaven zuvor bereits „im Katholizismus verstecken“ mussten.

Sein Protagonist erkennt immer deutlicher, wie tief er in der Falle sitzt. „Er will weg, kann aber nicht“, sagt De Los Santos. Alberto findet sich an einem Ort, an dem die Gewalt regiert, aber der Staat keine Rolle spielt – und wo niemand auf Gerechtigkeit hoffen kann. „Es gibt viele solcher Orte in der Dominikanischen Republik“, sagt der Regisseur. „Die Polizei ist nicht sichtbar. Der Staat ist nicht sichtbar.“

Der Filmtitel „Cocote“ bedeutet übrigens „Genick“, aber nur, wenn von Tieren die Rede ist, und hat immer Gewalt-Konnotationen, erläuterte der Regisseur in einem anderen Interview. „Sie können sich das Ausmaß von Gewalt nicht vorstellen, wenn Menschen keine Bildungsmöglichkeiten haben“, sagte er. „Es passiert etwas, aber niemand unternimmt etwas.“ So stellen sich dem Filmemacher die Verhältnisse im beliebten Touristenziel Dominikanische Republik dar: „Es sei denn, das Opfer war ein Reicher oder jemand aus der Mittelklasse.“

Sein Film greift die Form der Novene auf, erzählt in Episoden, in denen die Totenklage immer wieder in live gespielte Percussion-Rhythmen umschlägt. Dann wirken die Szenen fast dokumentarisch. Zudem arbeitet De Los Santos mit experimentellen Schwarz-Weiß-Sequenzen, die sich nicht unmittelbar auf die Handlungslinie beziehen lassen. Er mischt die Stilmittel ganz bewusst. „Hybrid-Ästhetik“ nennt er das. „So ist die Karibik“, sagt der Regisseur. In der Kultur der Antillen kämen sehr viele Einflüsse zusammen: das Spanisch-Karibische, das Holländisch-, das Französisch- und das Englisch-Karibische. Im Film sei neben Spanisch auch viel Slang und Kreolisch zu hören.

Das Medium Film fasziniert De Los Santos seit langem. Schon als Kind begann er zu schreiben und zu fotografieren. Der Film erschien ihm als die Kunstform, in der er all das verbinden konnte. Sein großes Vorbild ist der Brasilianer Glauber Rocha, einer der wichtigsten Vertreter des Cinema Novo. Mit 19 ging De Los Santos weg aus seinem Land. „Es gibt dort keine Filmhochschulen.“ Doch er kehrt jedes Jahr zurück: im Sommer und an Weihnachten – und um „Cocote“ zu drehen.

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Erstellt:
16.04.2018, 11:59 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 39sec
zuletzt aktualisiert: 16.04.2018, 11:59 Uhr

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