Ayka

Ayka

Eine junge Frau kämpft in Kirgistan ums Überleben: Wegen hoher Schulden lässt sie ihr Neugeborenes zurück und versucht, Geld aufzutreiben.

16.04.2019

Von Madeleine Wegner

Ayka

Die verheerendste Kälte kommt nicht vom Wetter, sondern von den anderen Menschen. Das ist Ayka (Samal Yeslyamova) nur zu bewusst, als sie mühsam das Toilettenfenster aufstemmt und aus der Moskauer Klinik abhaut, wo sie ihr Neugeborenes zurücklässt.

Von nun an rennt die 25-Jährige buchstäblich um ihr Leben. Blindlings stürzt sie sich in den brausenden Verkehr auf der mehrspurigen Straße vor der Klinik. Die Handkamera (Jolanta Dylewska) ist ganz dicht an ihr dran und fängt hautnah ein, wie Ayka zwischen den dicken Geländewagen hindurchtaucht, die den schmalen Körper immer wieder beinahe erwischen.

Die junge Kirgisin versucht, sich als illegale Arbeitsmigrantin in der russischen Hauptstadt durchzuschlagen. Sie muss dringend Geld auftreiben, um mafiöse Schuldeneintreiber zu befriedigen, die ihr Opfer mit Drohanrufen einzuschüchtern versuchen.

Doch Ayka rennt immer weiter, während schwermotorige Schneepflüge die Riesenstadt um sie herum in eine lärmende Maschinerie verwandeln, von der sie jederzeit verschlungen werden könnte. Sie ist ständig derart außer Atem, dass man sich fragt, wann sie zusammenbricht.

Sie verliert Blut und nimmt die restlichen Tabletten aus der Klinik mit einer Handvoll Schnee. Sie hat nichts zu essen und heuert zwischendurch in einer illegalen Hühnerschlachterei an, wo sie prompt um ihren Lohn betrogen wird. Ihren alten Job in einer Autowäscherei hat mittlerweile eine andere Frau, der Ayka nun ihrerseits droht und sie auch schlägt. Vorübergehend kommt sie in einer Tierklinik unter.

Der kasachische Regisseur Sergey Dvortsevoy („Tulpan“) führt in seinem Moskauer Extremwinter vor, wie sich eine Gesellschaft ganz ohne soziale Sicherungsnetze anfühlt. Je länger man Ayka bei ihrem gnadenlosen Existenzkampf zusieht, umso beklemmender wird es. Sie hetzt weiter, auch um den Preis, sich selbst dabei zugrundezurichten. Die Schauspielerin Samal Yeslyamova ist in der Rolle so überzeugend, dass sie in Cannes als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde.

Das zurückgelassene Baby ist keine fiktive Zuspitzung. Der Regisseur hat eine Zeitungsmeldung aufgegriffen, wonach kirgisische Arbeitsmigrantinnen ihre Säuglinge in Moskauer Kliniken zurückließen, mehr als 200 in einem einzigen Jahr.

Chancenlose Einwanderin in einem Moskau, dessen soziale Kälte noch viel beißender ist als die meteorologische.

Ayka

Zum Artikel

Erstellt:
16.04.2019, 15:22 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 04sec
zuletzt aktualisiert: 16.04.2019, 15:22 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport