Atlas

Atlas

Ein alter Möbelpacker entdeckt die gefährlichen Machenschaften seines Chefs und glaubt, seinen verlorenen Sohn wiederzuerkennen.

24.04.2019

Von Madeleine Wegner

Jeder lädt sich seine Last selbst auf – und muss sie auch selbst tragen.“ Das ist einer der wenigen Sätze, die Walter sagt. Der ehemalige Gewichtheber arbeitet als Möbelpacker. Der 60-Jährige tut, was zu tun ist und mischt sich, soweit es geht, nicht in fremde Angelegenheiten ein. Walter muss im Arbeitsalltag ohnehin ständig in das Privatleben anderer eindringen: Sein Chef arbeitet mit einem Gerichtsvollzieher zusammen, die Firma räumt regelmäßig Wohnungen.

So stemmt der wortkarge Walter Schränke auf seinen Schultern wie der griechische Titan Atlas das Himmelsgewölbe. Doch der alternde Mann hat weit mehr als Möbel zu tragen. Auch die Vergangenheit lastet schwer auf seinen Schultern. Und trifft ihn eines Tages unvermittelt in der Gegenwart. „Atlas“ ist nicht nur in dieser Hinsicht eine Parabel. Es ist eine Vater-Sohn-Geschichte, die in jeder Großstadt spielen könnte – der Wohnraum wird immer knapper und teurer. Dabei können die thematisierte Gentrifizierung, die Zwangsräumungen und das Aufbegehren dagegen gleichsam für die Sehnsucht nach einem Zuhause stehen.

Neben dem ausgezeichneten Drehbuch (David Nawrath, Paul Salisbury) macht Rainer Bock in der Rolle des Protagonisten Walter diesen Film groß und geradezu physisch erlebbar. Der 65-jährige Schauspieler war bislang nur in Nebenrollen zu sehen. Für den Walter scheint er die perfekte Besetzung zu sein: mit geradezu unheimlicher Präsenz wirkt er komplett ruhig, zugleich erschafft er eine knisternde Spannung und lässt den Zuschauer spüren, wie mächtig es hinter seiner Fassade brodelt.

Walter spricht nicht viel. Er ist es gewohnt, die Dinge mit sich selbst auszumachen. Er ist allein und wirkt doch nicht einsam – vielmehr wie ein Mensch, der sich in seinem spartanischen Alltag eingerichtet hat. Jemand, der nichts vom Leben erwartet, ohne verbittert zu sein.

[Textbaustein: ak2] „Atlas“ ist der erste Langspielfilm von David Nawrath, der in Deutschland und dem Iran aufgewachsen ist. Er bringt eine arabische, äußerst gewalttätige Großfamilie mit ins Spiel. Das wirkt bösartig klischeehaft. Doch andererseits würde die Geschichte in einer alternativen Konstellation vielleicht kaum funktionieren: Der Clan mit seinem eingeschworenen Zusammenhalt bildet das Gegenstück zu Walters familiärer Zerrissenheit.

Eine überaus gelungene, geradezu physisch spürbare Parabel mit einem grandiosen Hauptdarsteller.

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