Wiedersehen nach 13 Jahren

Zum ersten Mal seit der erzwungenen Ausreise war die komplette Familie Avdijaj in Gomaringen zu Besu

„Almanya – willkommen in Deutschland“ lief beim Open-Air-Kino im Gomaringer Schlosshof. Die Avdijajs waren dem deutschen Staat vor 13 Jahren nicht mehr willkommen. Dass die drei erwachsenen Kinder mittlerweile in Reutlingen leben, ist einer einzigartigen Initiative zu verdanken. Die finanzielle Hilfe hat sie nun eingestellt – die Freundschaft blieb.

30.07.2016

Von Gabi Schweizer

„Es ist immer wieder schön, hier zu sein, aber heute besonders, weil unsere Eltern auch da sind“, sagte die 27-jährige Elvira (hinter ihrer Mutter Dzevahire und ihrem Vater Isen) beim Open-Air im Gomaringer Schlosshof. Elvira, Edvin (in brauner Jacke) und Elvir Avdijaj leben gemeinsam in Reutlingen.Bild: Franke

„Es ist immer wieder schön, hier zu sein, aber heute besonders, weil unsere Eltern auch da sind“, sagte die 27-jährige Elvira (hinter ihrer Mutter Dzevahire und ihrem Vater Isen) beim Open-Air im Gomaringer Schlosshof. Elvira, Edvin (in brauner Jacke) und Elvir Avdijaj leben gemeinsam in Reutlingen.Bild: Franke

Gomaringen. Es ist wunderbar, wieder hier zu sein“, sagt Isen Avdijaj und lächelt. Seine Frau Dzevahire dagegen ist von vielen Erinnerungen aufgewühlt, als sie vor Filmbeginn mit der Presse spricht. „Jetzt kommen die ganzen Gefühle hoch.“ Ihre Gomaringer Freunde treffen sie zum ersten Mal seit 13 Jahren wieder.

Im Schlosshof musizieren die Midnight Ramblers, es gibt Fladenbrot und allerlei orientalische Köstlichkeiten, der Sommerabend ist angenehm lau, Menschen unterhalten sich, lachen. Die Initiative gegen Fremdenhass, die Vhs, die Bibliothek und das sehr aktive Flüchtlingsnetzwerk haben zum Open-Air-Kino geladen. Unter den Gästen und Helfern sind viele Geflüchtete – das Essen haben sie zubereitet. Sie erleben heute, was die Avdijajs vor vielen Jahren durchmachten: Flucht vor einem Krieg, Ankunft in einem unbekannten Land, neue Bekanntschaften. Kleine Kinder springen über den Hof, munter zwischen alteingesessenen und neuhinzugezogenen Gomaringern hin- und herwechselnd. Eventuelle Sprachbarrieren kümmern sie wenig. Auch Elvira, Edvin und Elvir waren klein, als die Familie in Gomaringen ankam – der Jüngste gerade sechs Monate alt. Eine andere Heimat als Deutschland kannten sie nicht, als sie zehn Jahre später abgeschoben werden sollten.

Ziemlich genau vor 13 Jahren sind die Avdijajs mit ihren damals 14, 12 und 10 Jahre alten Kindern in einen alten Lastwagen gestiegen, der vollgestopft war mit Sachspenden. Lehrer/innen, Mitschüler/innen, Isen Avdijajs Arbeitgeber, Freunde, Bekannte und die Initiative gegen Fremdenhass hatten sich dafür eingesetzt, dass die gut integrierte sechsköpfige Familie (damals lebte die Großmutter noch) bleiben dürfe. Vergeblich. Da sie also den Staat nicht überzeugen konnten, wollten die Helfer wenigstens die Ankunft im Kosovo erleichtern. Die Avdijajs gehören der Volksgruppe der Ashkali an, einer diskriminierten Minderheit. Dass sie in ihrer alten Heimat keine Perspektiven haben würden, war eine Ahnung, die sich leider als richtig erweisen sollte. Trotz guter Qualifikationen haben die Eltern in all den Jahren keine Arbeit gefunden. „Wir hatten alles in diesem Lkw, aber wir wussten nicht, wohin“, erzählt Dzevahire Avdijaj heute. „Wir hatten selbst auch Angst.“ Aber weil die Kinder so klein waren, wollten sie sich nichts anmerken lassen. Auch Waltraud Klett, Elviras ehemalige Klassenlehrerin, erinnert sich noch gut an den Abschiedstag. „Wir haben alle geweint, als der Lastwagen wegfuhr.“

Ihr ist es gewissermaßen zu verdanken, dass die Familie im Winter 2002 / 2003 nicht still und leise abgeschoben wurde. Elvira war zu ihr gekommen und hatte um ein Zeugnis gebeten. So erfuhr Klett, was der Familie drohte, und alarmierte sofort ihre Kollegen und später die örtliche Initiative gegen Fremdenhass. Das war der Beginn einer groß angelegten Unterstützeraktion samt Petition an den Landtag. Zwar mussten die Avdijajs trotzdem ausreisen, aber erst im Sommer. Das halbe Jahr nutzten die Unterstützer, um Geld zu sammeln, so dass die Familie sich ein bescheidenes Haus bauen konnte. Und doch war der Start sehr schwer – ohne Albanisch zu können und ohne Freunde in einem Land mit gewöhnungsbedürftiger Infrastruktur, erzählt Elvira. „Aber wir hatten ein Ziel: Wir möchten zurück. Und da gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder man findet einen Lebenspartner, oder man bildet sich weiter.“ „Lotto hast du vergessen“, witzelt Waltraud Klett, die diese Liste schon sehr gut kennt. Die Lehrerin und ihre ehemalige Schülerin sind Freundinnen geworden.

Bis vor Kurzem hat der Freundeskreis jeden Monat 300 Euro in den Kosovo geschickt, um das Auskommen der Familie zu sichern. „Das hat uns wirklich geholfen, sonst wären wir heute nicht hier“, sagt der 25-jährige Edvin Avdijaj: „Dafür sind wir sehr dankbar!“ Mit einem Stipendium der Böckler-Stiftung konnten er und Elvira in Deutschland ihren Master machen. Alle drei Kinder haben sich für Wirtschaftswissenschaften – wenngleich in verschiedenen Fachrichtungen – entschieden. Seit 2011 leben die beiden älteren Geschwister wieder in Deutschland. Der Wiederanfang war nicht immer leicht. Ausgerechnet Elvira, die ehemalige Klassensprecherin, die so offen und freundlich auf Menschen zugeht, tat sich schwer: Das Studium an der Sigmaringer Hochschule passte für Edvin, aber nicht für sie. Elvira Avdijaj hat dann ein Dualstudium an einer privaten Hochschule in Stuttgart begonnen und im vergangenen Jahr erfolgreich abgeschlossen. Die beiden Geschwister arbeiten inzwischen bei einem Personaldienstleister in Stuttgart. Seit drei Monaten lebt Elvir, der Jüngste, mit in der gemeinsamen Reutlinger Wohnung. Auch er hat im Kosovo seinen Bachelor gemacht und studiert nun Automotive Management in Geislingen, einem Ableger der Nürtinger Hochschule. Sehr gerne würden sie wieder in Gomaringen wohnen, erzählt Elvira. Aber der Pendelweg zur Arbeit wäre zu aufwändig.

Alle drei haben sich gut eingelebt – Elvir am schnellsten, weil er sich an den Geschwistern orientieren konnte. Und doch gibt es immer wieder Hürden. Die Aufenthaltsgenehmigung etwa ist auf zwei Jahre limitiert und hängt an einem Job, der ihrer Qualifikation entspricht. Waltraud Klett hat für die Wohnung bürgen müssen, sonst hätten die Geschwister keinen Mietvertrag bekommen. Und neulich stand die Polizei vor der Tür: Einem Nachbarn waren die Gäste, also die Eltern Isen und Dzevahire Avdijaj, suspekt vorgekommen, er vermutete „Illegale“. „Manche Leute haben vielleicht zu viel Zeit“, kommentiert Edvin: „Die Polizisten haben sich dann entschuldigt.“

Sowohl für die Eltern als auch für Elvir können die älteren Geschwister inzwischen selbst sorgen, so dass die Unterstützer ihre monatlichen Überweisungen eingestellt haben. „Am Anfang war unsere Motivation, staatliches Unrecht auszugleichen. Später war es Freundschaft“, resümiert Andreas Foitzik vom Freundeskreis. Jeden Sommer luden verschiedene Gomaringer Familien die Avdijaj-Geschwister für die Ferien ein. Dass sie beim Open-Air berichten, wie es ihnen und ihren Eltern geht, ist inzwischen zu einer kleinen Tradition geworden – die nun gewissermaßen ein Happy End fand.

Erstmals war der Veranstaltungserlös nicht für die Avdijajs, sondern für die aktuell in Gomaringen lebenden Geflüchteten bestimmt. Der Freundeskreis hat sich zum Flüchtlingsnetzwerk weiterentwickelt. Integration bedeute, sich von beiden Seiten zu bemühen, sagte Bürgermeister Steffen Heß bei einer kurzen Ansprache – und dankte allen, die sich früher und heute für Flüchtlinge engagier(t)en. Gerade jetzt: „Nach jedem Anschlag wird alles wieder in Frage gestellt. Deswegen ist es wichtig, dass wir an der Basis gute Arbeit leisten.

Das glückliche Ende der Avdijaj-Geschichte gilt nicht in jeder Hinsicht. Isen und Dzevahire Avdijaj sind gestern alleine in den Kosovo zurückgekehrt. „Es ist sehr schwierig, ohne die Kinder zu leben“, erzählt Dzevahire Avdijaj. „Aber wir sind überglücklich, dass sie hier eine Zukunft haben.“

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Erstellt:
30.07.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 19sec
zuletzt aktualisiert: 30.07.2016, 01:00 Uhr

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