Aufarbeitung

Wo tausende Menschen verschwanden

Vor 40 Jahren ist die Tübingerin Elisabeth Käsemann in Argentinien gefoltert und ermordet worden.

27.06.2017

Von MADELEINE WEGNER

Elisabeth Käsemann wurde 1977 in Argentinien ermordet. Foto: Elisabeth-Käsemann-Stiftung Foto: Elisabeth-Käsemann-Stiftung

Elisabeth Käsemann wurde 1977 in Argentinien ermordet. Foto: Elisabeth-Käsemann-Stiftung Foto: Elisabeth-Käsemann-Stiftung

Tübingen. Elisabeth Käsemann ist 29 Jahre alt, sie lebt in Buenos Aires, studiert dort, engagiert sich für sozial Benachteiligte und verhilft politisch Verfolgten zur Ausreise. Der argentinischen Militärjunta ist sie deshalb ein Dorn im Auge. Im März 1977 wird sie in das Haftlager „El Vesubio“ verschleppt, wochenlang gefoltert, vergewaltigt und schließlich am 24. Mai erschossen – auch, weil die deutsche Regierung sich nicht für die Rettung der jungen Frau einsetzt.

Daniel Rafecas hat Elisabeth Käsemanns Mörder verurteilt. Rafecas war Ermittlungsrichter von weiteren deutschen Opfern: Man geht von rund 100 ermordeten Deutschen während der Militärdiktatur aus. Insgesamt sind es zwischen den Jahren 1976 bis 1983 mindestens 30?000 Opfer gewesen.

2005 entschied der Oberste Gerichtshof Argentiniens, die Strafprozesse zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit wieder aufzunehmen. „Das war die Wende“, sagte Rafecas kürzlich beim ersten „Elisabeth Käsemann Symposium“ in Tübingen – also in der Stadt, in der Käsemann aufgewachsen war und ihr Abitur gemacht hatte. Seit dem Urteil von 2005 habe in Argentinien ein bemerkenswerter Prozess von Ermittlungen und Verurteilungen in Zusammenhang mit der Militärdiktatur eingesetzt.

Eine Schlüsselrolle hätten dabei die Überlebenden und die Angehörigen der Opfer gespielt, die mit Hilfe internationaler Organisationen Druck auf Argentinien ausgeübt hatten. Die Situation sei in gewisser Weise ähnlich der in Deutschland nach dem Nazi-Regime gewesen: „Es gab eine Ära der Straflosigkeit und des Verbrechens in meinem Land“, sagte Daniel Rafecas. Das Desinteresse der Gesellschaft an einer Aufarbeitung der Verbrechen habe sich aber gewandelt. Als der Oberste Gerichtshof in Buenos Aires entschied, dass Hafterleichterungen auch bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit möglich sein sollen, gingen im Land rund 500?000 Menschen auf die Straße und demonstrierten mit Erfolg gegen das Urteil. „Wir waren perplex, nicht einmal die Optimistischsten hatten das erwartet“, sagte Rafecas.

Staatliche Verbrechen, insbesondere das Verschwindenlassen von Menschen, sind nicht nur ein Problem der Vergangenheit. Besondere Aufmerksamkeit erlangte zuletzt 2014 die Massenentführung von 43 Studenten in Mexiko. Hier verschwinden täglich Menschen. „Man spricht von über 100?000 Opfern und einer Straflosigkeit von 98 Prozent“, sagte Luis Efrén Ríos Vega, Generaldirektor der interamerikanischen Akademie für Menschenrechte. Der Staat streite das Problem aber ab. „Er sollte zur Rechenschaft gezogen werden“, forderte Vega. Was dabei – ähnlich wie in Argentinien – helfen könnte: „Der Druck von internationaler Seite ist wichtig.“ Madeleine Wegner

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Erstellt:
27.06.2017, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 13sec
zuletzt aktualisiert: 27.06.2017, 06:00 Uhr

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