Buchkritik: Der Ton macht die Musik

„Wir können nicht allen helfen“: Boris Palmer fühlt sich in der Flüchtlingsdebatte missverstanden

Boris Palmer ist wie ein Vexierbild, unbeugsam oder stur, Held oder Verräter – je nach Sichtweise. Mal handelt der Tübinger Oberbürgermeister strategisch mit scharfem Verstand, mal schwätzt er aus dem Bauch heraus.

03.08.2017

Von Gernot Stegert

Schnell und scharf schreibt Boris Palmerauf Facebook mit demSmartphone. Im Buch tritt er reflektierter auf. Archivbild: Metz

Schnell und scharf schreibt Boris Palmer
auf Facebook mit dem
Smartphone. Im Buch tritt er reflektierter auf. Archivbild: Metz

In der Flüchtlingsdebatte polarisiert der Politiker der Grünen seit fast zwei Jahren bundesweit. Jetzt liegt sein Buch zum Thema vor. Zum Skandal taugt es nicht. Der Titel „Wir können nicht allen helfen“ soll zwar den Verkauf fördern. Doch der Inhalt ist weniger anstößig als erhofft oder befürchtet.

Eine Rechtfertigung, keine Analyse

Fast alles auf den 256 Seiten ist aufmerksamen Beobachtern bekannt. Als Autor hat Palmer seine öffentlichen Äußerungen gesammelt und überarbeitet. Eine systematische Analyse ist es nicht. Dafür fehlen zu viele wichtige Aspekte des Flüchtlingsthemas. Es ist eine Klarstellung und Rechtfertigung. Der Streitbare nimmt inhaltlich nichts zurück, sichert sich aber gegen – vermeintliche – Missverständnisse ab.

Die Kernbotschaften lauten wie schon in den unzähligen Talkshows, Interviews und vor allem Facebook-Posts der vergangenen zwei Jahre: Die Zahl der Flüchtlinge muss begrenzt werden. Probleme muss man benennen. Wir brauchen Realismus statt Idealismus, Verantwortungs- statt Gesinnungsethik. Die Argumentation aber ist differenzierter und der Ton ruhiger als bisher. Das ist dem Medium Buch geschuldet, aber nicht nur.

Er sieht sich als Mahner und Warner

Die auffälligste Veränderung ist Palmers Grundhaltung. Er hat sich bundesweit die Rolle eines prominenten Mahners und Warners erarbeitet. Schon im September 2015 widersprach er Angela Merkels „Wir schaffen das“ heftig. Er riss die rosarote Brille anderen wortgewaltig von den Augen, hatte selbst aber eine schwarze auf. Als Oberbürgermeister handelte er jedoch konstruktiv. Diese Schere brachte ihm in Tübingen Ärger ein, weil er deutschlandweit den Einruck vermittelte, in der Universitätsstadt laufe vieles schief. Dabei war und ist Tübingen in vielem vorbildlich.

Palmer kritisiert Merkel

Nun spricht Palmer auch von Chancen. Die Euphorie sei falsch gewesen, nur wenige Flüchtlinge seien eine Bereicherung für den Arbeitsmarkt. Doch aus dem selben Realismus heraus schreibt er: „Willkommenskultur, verstanden als freundliche Aufnahme, ist daher schon aus Eigennutz erforderlich.“ Das Zitat zeigt, wie falsch Versuche sind, den Tübinger in die rechte Ecke zu rücken. Boris Palmer ist und bleibt ein Grüner. Er will die Integration. Die erfolgreiche. So will er der AfD das Wasser abgraben.

Palmer kritisiert im ersten Kapitel die „moralische Aufladung der Flüchtlingspolitik“ durch die Bundeskanzlerin und eine breite deutsche Öffentlichkeit im Herbst 2015. Das produziere zwangsläufig Enttäuschung und verurteile Skeptiker, nicht nur Gegner aus der rechten Ecke. Konkret wird dies bei der Begrenzung der Flüchtlingsaufnahme. Diese fordert der Grüne. „Nicht im Sinne einer festen Zahl, sehr wohl aber im Sinne von Maßnahmen“, die begrenzen. Eine Obergrenze, wie die CSU sie will, lehnt der Grüne ab. Als Oberbürgermeister sieht er aber eine Belastungsgrenze – objektiv bei der Versorgung mit bezahlbarem Wohnraum oder mit Kitaplätzen, subjektiv bei der Akzeptanz in weiten Kreisen der Bevölkerung. Wären wie im September 2015 weiter täglich 10 000 Flüchtlinge gekommen, wären es im Jahr 3,65 Millionen gewesen – für den OB eindeutig zuviel für Behörden wie Gesellschaft.

Die Tübinger Erfahrungen

Im zweiten, „Vor Ort“ überschriebenen Kapitel spielt Palmer seine Tübinger Erfahrungen aus. Sichtbar wird, wie er sich – anders als manche Äußerung vermuten ließ – als Pragmatiker für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen einsetzt. Mit Schwung berichtet er von den Bemühungen der Stadtverwaltung, neuen Wohnraum für 2000 Menschen in zwei Jahren zu schaffen - und den meist absurden rechtlichen Hürden in Deutschland. Etwa wenn die Geräusche eines Tennisplatzes einen Hausbau verzögern. Die Bundesregierung habe ihre Versprechen eben nicht eingelöst, Verfahren zu vereinfachen.

Kriminalität ist ein wichtiges Thema

Leider beschreibt der Oberbürgermeister nicht weitere Probleme und Lösungen bei der Flüchtlingsaufnahme und -integration – etwa bei Kinderbetreuung, Schule oder Arbeitsmarkt. Vielmehr bleibt er bei seinen Lieblingsthemen. Und das ist neben dem Wohnraum die Kriminalität. Zunächst erwähnt er die Unzulänglichkeiten der Statistik. Dann schreibt er über Asylbewerber, sie „haben sehr viele Eigenschaften, die in unserem Land die Wahrscheinlichkeit, kriminell zu werden, nach oben treibt. Das betrifft nicht die Herkunft, aber ihr Geschlecht, ihr Alter, ihre Perspektive am Arbeitsmarkt, ihr Wohnviertel, ihr Bildungsgrad oder ihr Einkommen.“ So nimmt er Kritikern, die ihm Ausländerfeindlichkeit oder Rassismus vorwerfen, den Wind aus den Segeln.

Großen Raum nehmen die sexuellen Übergriffe im Epple-Haus im Mai ein und die nachfolgende Debatte in der Stadt. Palmer bringt sogar Verständnis für den Wunsch der linksalternativen Szene auf, die Probleme ohne Polizei und Medien zu lösen. Doch: „Im Zeitalter der sozialen Medien und bei zu vielen Beteiligten funktioniert die stille Lösung nicht mehr. Denn der Versuch, alles unter dem Deckel zu halten, macht alles nur noch schlimmer. Dafür ist Köln der beste Beleg. Wir müssen die Probleme offensiv lösen, damit sich der Rassismus nicht ausbreitet.“

Die Diskussion im Juli um den mutmaßlichen Mehrfachvergewaltiger aus Gambia hat keine Aufnahme mehr gefunden. Palmer schreibt aber: „Es ist nur eine sehr kleine Minderheit unter den Asylbewerbern, die zur Gewalt greift. Ein Generalverdacht gegen Asylbewerber oder gar alle Ausländer ist unmenschlich und zerstört die Fundamente einer pluralistischen Gesellschaft.“ Man fragt sich beim Lesen, warum er sowas nicht schon früher geschrieben hat.

In Kapitel 3 beklagt Palmer „Illusionen und Tabus“. Es ist mit über 100 Seiten das längste und variiert seine drei Botschaften:

Probleme dürfen nicht
verschwiegen werden.

Ich spreche aus, was andere
sich nicht trauen.

Ich habe recht gehabt.

Dabei stimmt er nicht in den rechten Chor einer „Meinungsdiktatur“ und dem trotzig-rotzigen „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ ein. Er differenziert: „Das Problem ist nicht, dass man nicht mehr sagen darf, was man denkt. Das Problem ist, dass viele denken, sie dürften nicht mehr sagen, was sie wollen, und es deshalb lieber für sich behalten. Das führt zu einer Diskursblockade, die es rechtspopulistischen Parteien erst ermöglicht, sich als Fürsprecher der einfachen Leute und Tabubrecher zu inszenieren.“

Miteinander reden und nicht ausgrenzen und moralisierend verurteilen – das erklärt Palmer zu seinem Anliegen. Hier reiht er Tübinger Diskussionen ein. Tierschützer sollten Forscher nicht bedrohen. Schwarze sollten nicht jede „Mohrenkopf“-Äußerung als Rassismus bezichtigen. Homosexuelle sollten nicht hinter jedem Lob der Mann-Frau-Ehe Homophobie wittern.

Palmer befürwortet auch Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien

Palmer räumt Fehler ein. Dass er im „Spiegel“-Interview im Februar 2016 gesagt hatte, dass auch Grün wählende Professoren in Tübingen Angst um ihre „blonden Töchter“ haben, hält er im Kern weiter für eine wichtige Aussage. Doch das Wörtchen „blond“ würde er heute nicht mehr sagen. Die Debatte darum habe von seinem Anliegen abgelenkt.

In manchem bleibt Palmer sperrig. So verteidigt er weiter die Abschiebung sogar nach Afghanistan und Syrien – aber in nicht umkämpfte Gebiete und nur für Verbrecher. Dies sei durch Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention gedeckt. Denn, rechnet der Mathematiker kühl vor, in Afghanistan gebe es prozentual nicht mehr Tote durch Gewalt als in Chicago oder Brasilien.

Palmers Kampf gegen „Illusionen und Tabus“ erscheint auf den ersten Blick als der eines Ritters für die Wahrheit. In dieser Rolle inszeniert sich der Sohn des Remstal-Rebellen wieder und wieder. Oft schlägt er aber einen Popanz oder eine nur kleine Gruppe in seinem Milieu. Meist zitiert er die alternative „tageszeitung“ (taz) oder Parteifreunde als Gegner. Bei der Mehrheit der Bundesbürger rennt er offene Türen ein. „Wir können nicht allen helfen“ – wer außer einigen unverbesserlichen Idealisten bestreitet das? Der Autor selbst bezeichnet den Satz als Trivialität. Und wie ist es mit dem Verschweigen? Sprechverbote gab es nie, einen Mainstream nur bis Ende 2015. Gerade Merkel-Kritiker wie Palmer erfuhren besondere Aufmerksamkeit in den Medien.

Lösungsvorschläge bietet das Buch kaum

Das Schlusskapitel heißt „Lösungen“, kann das Versprechen auf nicht einmal 30 Seiten aber nicht erfüllen. Als Vorbild und „gebaute Integration“ beschreibt der Oberbürgermeister das dezentrale Wohnkonzept in Tübingen. Zu Recht. Am Ende fordert er von seiner Partei einen Realo-Weg auch in der Flüchtlingsfrage und umschmeichelt sie: „Niemand könnte das besser als wir Grünen.“ Werde der realistische Weg beschritten, „dann können wir als Grüne und als Land mit Recht sagen: Wir schaffen das.“ So hat ausgerechnet Merkel mit ihrem umstrittenen Satz das letzte Wort im Buch ihres Kritikers. Eine hübsche Schlusspointe des Autors. Nach der Lektüre fragt sich der Leser: Weshalb nicht gleich so? Palmer selbst schreibt, dass ihn die Auseinandersetzungen der vergangenen zwei Jahre belastet haben, selbst Freundschaften litten. Dass sogar Förderer Winfried Kretschmann mit dem Buch nichts zu tun haben will, legt bloß, wie stark sich der Tübinger bei den Grünen isoliert hat. Sind nur die anderen schuld, versteht keiner Palmer? Kommen sie mit seinem Klartext nicht zurecht, wie er sich oft herausredet? Nein, er ist selbst verantwortlich für seine Äußerungen – und den Ton. Wie es in den Wald hineinruft ...

Boris Palmer ist wie sein Vater Helmut im Ich-kämpfe-für-die-Gerechtigkeit-gegen-alle-Dauermodus und kommt kaum heraus. Bei vielen seiner Provokationen brauchen auch Palmer-Kenner eine Weile, um herauszufinden, ober er zu schnell geschossen hat, einfach kein Gespür bei einem heiklen Thema hatte oder als Medienprofi aus Kalkül zugespitzt hat. Das Buch zeigt, dass es sich lohnt, vor einem Facebook-Post oder einem Interview noch mal nachzudenken oder sich zu beraten. Wenn er denn wirklich will.

„Wir können nicht allen helfen“: Boris Palmer fühlt sich in der Flüchtlingsdebatte missverstanden

In einer Hütte bei Pfrondorf begann es

Seinen Einstieg in die Flüchtlingsdebatte datiert Boris Palmer auf einen Facebook-Eintrag im Oktober 2015. Doch schon Anfang September ging es nichtöffentlich los. Die drei Tübinger Bürgermeister und ein knappes Dutzend Journalisten aus der Region saßen wie jedes Jahr in einer Hütte bei Pfrondorf zusammen, um über verschiedene Themen zu sprechen. Die Stimmung war fröhlich, bis Palmer aufs Thema Flüchtlinge kam und harsch Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisierte. Als bloße Ermutigung wollte der OB deren Satz „Wir schaffen das“ nicht gelten lassen. Zu viele Flüchtlinge kämen auf einmal, zu unkontrolliert. Der OB schleuderte der Kanzlerin sein „Wir schaffen das nicht“ entgegen. Es sollte zu seinem medialen Leitmotiv der nächsten Monate werden. Oft variiert zum „Wir schaffen das so nicht“.

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Erstellt:
03.08.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 6min 06sec
zuletzt aktualisiert: 03.08.2017, 01:00 Uhr

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