Mit Engelszungen

Wenn aus Opfern Täter werden

Nizza, Würzburg, München, Ansbach, Rouen – und Reutlingen. Die brutale Tat eines 21-jährigen Syrers, der am Sonntag seine 45-jährige Freundin mit einem Dönermesser getötet und fünf weitere Menschen verletzt hat, reiht sich ein in eine Serie von Gewalt-Exzessen, wie es sie schon lange nicht mehr gegeben hat, wenn überhaupt in dieser Häufung.

30.07.2016

Von Matthias Reichert

In Reutlingen war es kein Terroranschlag, sondern offenbar eine Beziehungstat. Und der Täter leidet unter psychischen Problemen. Anderswo war es Terror. Über die Gründe der Häufung solcher Attacken kann man nur spekulieren. Es mag sein, dass der weltweite Medienhype eine Rolle spielt, der Nachahmungstäter auf den Plan ruft.

Bei Älteren werden Erinnerungen an die Zeit wach, als der Terror der „Rote Armee Fraktion“ die Republik in Atem hielt. Diesmal tobt der Furor weltweit – da registrierte man schon kaum mehr, dass einen Tag nach der Reutlinger Attacke ein Amokläufer in einem Behindertenheim im japanischen Yokohama 19 Menschen erstochen hat. Dass in Syrien, im Irak und in Afghanistan seit Jahren alle paar Tage viele Menschen bei Anschlägen sterben müssen, geht hierzulande im Nachrichtentrubel ohnehin oft unter.

Die Zeit ist aus den Fugen – und die Stimmung in der Bevölkerung droht zu kippen. Am gestrigen Freitag haben nun syrische Geflüchtete auf dem Reutlinger Marktplatz demonstriert (siehe Meldung unten). Sie verteilten Rosen, um ihrer Bestürzung Ausdruck zu verleihen und sich vom Täter zu distanzieren. „Wir wollen niemandem schaden, sondern friedlich hier leben und arbeiten“, stand auf einem ihrer Transparente. Ein Signal, das Not tut.

Nicht nur Flüchtlingshelfer warnen, dass Rechtsextreme die weltweiten Gewalttaten zu ihrer Stimmungsmache ausschlachten könnten. Es ist traurig – aber in Reutlingen gibt es alle paar Jahre ein spektakuläres Tötungsdelikt. Bisher waren die Täter zumeist Einheimische. Nun war es ein anerkannter Asylbewerber. Das ist immer noch kein Grund, pauschal auf „die Asylanten“ zu schimpfen – aber in manchen Köpfen bestätigt so eine Tat bestehende Vorurteile. Andere haben einfach Angst, wenn sie die Nachrichten hören. Auch ehrenamtliche Flüchtlingshelfer sind nach der Messerattacke vom Sonntag verunsichert.

Es bringt wenig, jetzt nach dem starken Staat zu rufen, wie das zuletzt in Bayern geschehen ist. Dennoch sind Konsequenzen nötig. Die Geflüchteten sind oft traumatisiert von Krieg und Vertreibung – und sie werden viel zu häufig alleingelassen. Es braucht mehr Mittel und Fachpersonal für psychologische Betreuung wie für Sozialarbeit. Sonst werden womöglich aus Opfern Täter. Auch beim Reutlinger Täter bestand und besteht Behandlungsbedarf. Wie die „Zeit“ berichtet, wollte er aber nicht zum Drogenentzug in eine psychiatrische Klinik. Die Tat vom Sonntag ist ein trauriger Einzelfall, der angesichts der Häufung von Terror und Gewalt Kreise gezogen hat. Aber das geht eben in der allgemeinen Hysterie unter.