Spaßvögel im Steinlachtal

Wenn Rotmilane mitgrillen wollen

Rotmilane sind eigentlich eher scheu – doch In Mössingen lud sich nun mindestens ein Vogel selbst zum Barbecue ein. Wer möchte schon die ganze Zeit nur Mäuse?

12.08.2017

Von Gabi Schweizer

Das wäre geschafft: „Auf dem Dach nimmt mir das Würtschen niemand mehr weg“, mag sich dieser Rotmilan gedacht haben. Noch ein Blick nach unten, und das Mahl kann beginnen. Bilder: Hartwich

Das wäre geschafft: „Auf dem Dach nimmt mir das Würtschen niemand mehr weg“, mag sich dieser Rotmilan gedacht haben. Noch ein Blick nach unten, und das Mahl kann beginnen. Bilder: Hartwich

Dass ein Rotmilan-Pärchen über der Robert-Koch-Straße in Mössingen kreist, ist nichts Ungewöhnliches. Wiewohl in Mössingens Mitte gelegen, ist von dort aus das nächste Wäldchen nicht weit. Schon oft hat Stephanie Hartwich die beiden Vögel beobachtet, wenn sie bei ihrer Mutter zu Besuch war.

Neulich, beim Grillen, kam eins der beiden Tiere ihr näher als sonst. Der Anblick von brutzeldem Fleisch muss auch dem gefiederten Zeitgenossen zugesagt haben. Zuerst, erzählt Stephanie Hartwich, flog der Vogel aufs Dach, dann dicht über ihrem Kopf weg. Hartwichs Familie fürchtete schon um ihr Essen und brachte es sicherheitshalber nach drinnen.

Tja, was nun, frecher Milan? An einem schönen Sommerabend allerdings stehen die Chancen gut, anderswo fündig zu werden. Auch die Nachbarn hatten den Grill angeworfen. „Da ist er zu ihnen geflogen und auf der Tischtennisplatte gelandet.“ Die Leute müssen sich ziemlich erschrocken haben, denn sie verzogen sich schnell ins Haus. Stephanie Hartwich wiederum eilte mit der Kamera nach drüben, Bilder machen. Gerade als der Nachbar wieder aus dem Haus trat, fasste der Milan sich ein Herz, schnappte ein Würtschen vom Grill und flog damit aufs Dach.

Dass so ein Flugmanöver ihm gelang, wundert Daniel Schmidt-Rothmund überhaupt nicht, den Leiter des Nabu-Vogelschutzzentrums in Talheim. „Das passt in das besondere Flug- und Nahrungssuchvermögen von Rotmilanen“, die Vögel seien „unglaublich geschickt“. Und: „Sie sind Opportunisten, die nehmen, was sie kriegen.“ Dass ein Tier ein Würtschen vom Grill stibitzt, sei allerdings „schon ein bisschen ungewöhnlich“. Denn gemeinhin sind Rotmilane scheu.

Mit Ausnahmen: Auch Jochen Eißler aus der nahe gelegenen Max-Planck-Straße hatte kürzlich einen ungewöhnlichen Gast. „Das war schon beeindruckend“ – so schildert er, wie ein Rotmilan im Tiefflug auf den Garten zugesegelt kam, plötzlich hochzog und auf dem Dach ein Plätzchen suchte. „Dann hopste er aufs Balkongeländer.“ Die Familie saß auf der Terrasse und war doch etwas eingeschüchtert von dem großen Vogel mit seiner beachtlichen Spannweite.

Aber der geflügelte Besucher saß lediglich interessiert da und ließ sich auch von Eißler nicht groß beeindrucken, als der sich mit Kamera anschlich. „Der hat bestimmt 20, 30 Minuten da gesessen und geguckt.“ Dass der Vogel sich so nah an heranwagte, spricht nach Schmidt-Rothmunds Einschätzung dafür, dass es von Menschen aufgezogen wurde. „Normalerweise flüchten sie schon auf 100 Meter Entfernung.“

Ob es der Würstchendieb war? Die Fotos sprechen eher dagegen. Außerdem: Ganz so gesellig war der gefiederte Gast in der Robert-Koch-Straße nicht. „Wenn wir den verjagt hätten, wäre er sicher auch gegangen“, meint Stephanie Hartwich, die keinesfalls Panik unter Grill-Fans schüren möchte. „Der kommt nicht und landet neben einem.“

Auch aus anderen Gründen scheint fraglich, ob der Vogel nochmal zuschlägt. Das halb durchgebratene Würstchen hat er nur halb verspeist. Ob es ihm doch nicht ganz so gut geschmeckt hat? Normalerweise ernähren Rotmilane sich zu einem großen Teil von Mäusen – aber eben nicht nur. „Viele unserer Rotmilane leben im Winter in Spanien auf Müllkippen“, erzählt Schmidt-Rothmund, wo sie alte Wurstpellen und dergleichen vespern. Sie haben keine Hemmungen, sich an überfahrenen Igeln zu sättigen oder an Regenwürmern, die sie aus frisch gepflügten Äckern zupfen.

Gefahr droht ihnen im Winterquartier durch Gift, weiß der Biologe. Denn in Spanien würde immer noch welches ausgelegt, um Wölfe oder streunende Hunde zu töten. Mit der Konsequenz, dass auch Rotmilane „in großem Stil“ daran sterben. Und: „Eine große Gefärdung sind leider auch unsere Windenergieanlagen.“

„Uuu-wiuwiuwiu-wiuuuu“

Auch wenn man hier in der Region den Eindruck gewinnen könnte, dass Rotmilane häufig vorkommen: Das täuscht. Weltweit sind sie laut Ornithologe Daniel Schmidt-Rothmund „extrem selten“. Im Jahr 2000 kürte der Nabu den Rotmilan zum „Vogel des Jahres“. Mit seinen 65 Zentimetern Körpergröße und einer Flügelspannweite von bis zu 180 Zentimetern zählt der scheinbar schwerelos Dahingleitende zu den größten heimischen Greifvögeln. Sein Markenzeichen ist der lange gegabelte Schwanz. Sein trillerndes „Uuu-wiuwiuwiu-wiuuuu“ ertönt vor allem im Frühjahr. Weltweit gibt es laut Nabu maximal 25 000 Paare, von denen mehr als die Hälfte in Deutschland leben – wobei es ihnen immer schwerer fällt, geeignete Brut- und Nahrungsstätten zu finden. Der Rotmilan steht auf der Vorwarnliste der Roten Liste, die gefährdete Brutvögel aufzählt.

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Erstellt:
12.08.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 11sec
zuletzt aktualisiert: 12.08.2017, 01:00 Uhr

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