Mit Engelszungen

Wenn Inder auf der Alb statt im Fürstentum landen

Eigentlich hätten wir es ahnen können, spätestens als wir per E-Mail auf Englisch die Anfrage erhielten: „Wie kommt man eigentlich mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Zürich auf den Göllesberg?“

08.08.2017

Von Bernhard Haage

Ein älteres Ehepaar aus Indien hatte über das Internet unser Gästezimmer gebucht. Aber noch war der Groschen bei uns nicht gefallen. Erst als ich die beiden vergangenen Samstag in Reutlingen vom Bahnhof abholte und sich Chander Dev Singh, ein höflicher grauhaariger Herr mit eindrucksvollem, gebundenem Turban auf seinem Haupt, nach dem berühmten Briefmarkenmuseum erkundigte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Die beiden hatten bei ihrer Buchung Lichtenstein mit dem beinahe gleichnamigen Fürstentum Liechtenstein verwechselt.

So etwas hätte uns umgekehrt in Indien natürlich lässig genauso passieren können. Aber nun waren die beiden in Lichtenstein – und zum Glück hatten meine Frau und ich an diesem Wochenende keine anderen Pläne. Also stellten wir blitzschnell ein Alternativprogramm zusammen. Schwäbische Alb, nie gehört? Das geht ja gar nicht! Es war nicht ganz einfach, mit unserem wenig geübten Englisch den nun folgenden intensiven Konversationen in allen Details zu folgen. Aber bald wussten wir doch, dass wir es bei Chander Dev Singh mit dem Autor des bahnbrechenden Buches „Stamps on Sikhs“ zu tun hatten, einem international preisgekrönten Standardwerk zur Briefmarkengeschichte der indischen Sikhs.

Kein Wunder, dass er eigentlich ins Briefmarkenmuseum wollte. Wir brachten unsere Gäste stattdessen auf Schloss Lichtenstein, das zwar nicht fürstlich, aber immerhin herzoglich ist. Chander und seine überaus herzliche Frau, deren indischen Namen ich leider weder aussprechen noch schreiben kann, waren begeistert. Genauso von Spaziergängen im Biosphärengebiet und von der Tübinger Altstadt. Da wir erfahren hatten, dass sich Chander außerdem für Archäologie interessiert, entführten wir die Beiden ins Tübinger Schloss und hatten alle Hände voll damit zu tun, ihnen zu versichern, dass ein Generalbau-Mey-Triathlon kein traditionelles deutsches Volksfest ist. Chander, seines Zeichens Hobbyfotograf, hielt dennoch alles für die Kinder und Enkel in Indien fest. Natürlich war es ein Volltreffer, dass er und seine Frau im Schloss einige der ältesten Kunstwerke der Menschheit bestaunen konnten.

Zurück auf dem Göllesberg bestanden unsere Gäste darauf, im Stahlecker Hof schwäbisch zu Speisen und fanden Maultaschen nach einer kleinen Ergänzung durch Tabasco-Soßen aus der Küche „delicious“. Als wir uns am Endes dieses spannenden Wochenendes von ihnen verabschiedeten, wussten wir einiges über die Religion der Sikhs, deren Entstehung unter dem Wanderprediger Guru Nanak vor fast 500 Jahren uns Chander mit Martin Luther zu erklären versuchte. Jetzt kennen wir alle Kinder und Enkel der Beiden und haben sogar eine Ahnung davon, dass Briefmarkensammeln eine durchaus spannende Angelegenheit sein kann. Das Beste allerdings ist, dass wir an diesem Wochenende zwei neue Freunde gefunden haben.

Chander und seine Frau dankten Gott dafür, dass sie das Schicksal in eine so wunderbare Gegend mit so freundlichen Menschen verschlagen hat, und wir nahmen von unserem ursprünglichen Plan Abstand, in unserem Internetauftritt auf den kleinen Unterschied zwischen Lichtenstein und Liechtenstein hinzuweisen. Der ist ja auch gar nicht so wichtig – und schließlich gibt es Verwechslungen, die einfach gut sind.

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Erstellt:
08.08.2017, 19:14 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 32sec
zuletzt aktualisiert: 08.08.2017, 19:14 Uhr

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