Konzerne sind schlechte Zeugen

Was Tübinger Staatsanwälte bei der Arbeit behindert

Die Tübinger Staatsanwaltschaft ermittelte 2016 in fast 52000 Verfahren – so vielen wie noch nie. Die Zahl der Körperverletzungen stieg sprunghaft an. Bei Computerbetrügereien bremsen Firmen die Ermittler aus.

22.03.2017

Von Jonas Bleeser

Symbolbild: Hugo Berties - fotolia.com

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Außerordentlich fleißig und frustrationstolerant – so beschreibt der Leiter der Tübinger Staatsanwaltschaft Michael Pfohl seine Mitarbeiter. Fleißig, weil auf deren Schreibtischen vergangenes Jahr insgesamt 51738 Verfahren landeten – und damit mehr als jemals zuvor. Und Frust schoben die Ankläger, weil ihnen laut Pfohl die Arbeit manchmal unnötig schwer gemacht wird – und sie nur wenig dagegen tun könnten.

Das betreffe vor allem Abzocke über das Internet, die einen bedeutenden Teil der 4341 Betrugs- und Untreuefälle des vergangenen Jahrs ausmacht. Sie liegen auf einem Zehn-Jahres-Höchststand.

Pfohl nannte ein Beispiel: Ein Betrüger bestellt im Namen einer Frau Waren über die Internetplattform Amazon und behält sie. Die Betrogene bemerkt das und erstattet Anzeige. Die Polizei fragt bei dem internationalen Konzern nach den Daten des Betrügers. Doch die Firma verweigert die Auskunft: Die gebe man nur auf Anfrage einer Staatsanwaltschaft. Nun fragt der Staatsanwalt selbst an. Als Antwort erhält er ein mehrseitiges Schreiben: Er solle seine bisherigen Ermittlungen schildern, außerdem mitteilen, gegen wen sie sich richten (was die Staatsanwaltschaft ja durch die Anfrage eben herausfinden will) und ob es sich um ein Kapitalverbrechen handelt. Nach weiterem Schriftverkehr teilt das Unternehmen mit, man könne die Daten nur herausgeben, wenn es einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss für ein Tochterunternehmen gebe.

Dessen Sitz ist in Luxemburg. Da er jenseits der Landesgrenzen liegt, müsste der Ermittler nun Amtshilfe beantragen – und das alles wegen eines Schadens von 140 Euro. Im Schnitt hat ein Dezernent für ein solches Verfahren etwa 76 Minuten zur Verfügung. Aber Rechtshilfeersuchen mit dem Ausland kosten sehr viel Zeit. Da die Verhältnismäßigkeit nicht mehr gegeben ist, wird es schließlich eingestellt. „Darüber beschweren sich die Leute zurecht. Das ist die absolute Frechheit, was sich die Firmen teilweise herausnehmen“, schimpft Pfohl merklich sauer, „das grenzt an Strafvereitelung.“ Dabei müssten sie doch eigentlich ein Interesse daran haben, ihre betrogenen Kunden zu unterstützen. So oder ähnlich laufe es bei vielen Unternehmen, bei Apple, PayPal, Ebay oder Yahoo, erklärt Pfohl. Wenn er eine Auskunft zu einer E-Mail-Adresse brauche, die ein Betrüger benutzt hat, könne es je nach Firmensitz Jahre dauern, bis er sie erhalte.

Der Gesetzgeber müsse dringend reagieren und vorschreiben, dass die Gesellschaften persönliche Ansprechpartner in Deutschland benennen, an die sich die Ermittler wenden können. Und dass sie bereits der Polizei gegenüber zur Auskunft verpflichtet sind. „Die Zeugenpflicht ist eine allgemeine Staatsbürgerpflicht. Aber das gerät immer mehr in Vergessenheit.“

Die insgesamt fast 52000 Fälle im vergangenen Jahr sind ein Rekord. Und der Anstieg um 1929 Vorgänge gegenüber 2015 ist eine Tübinger Besonderheit. Im Landesdurchschnitt gab es kaum Veränderungen. Eine Erklärung hatten beim Jahres-Pressegespräch am Dienstag weder Behördenleiter Pfohl noch sein Stellvertreter Martin Klose. Vor zwei Jahren war es umgekehrt gewesen – damals hatten die Tübinger Verfahrenszahlen stagniert, während sie bei anderen Staatsanwaltschaften geklettert waren. In 22565 Fällen wurde gegen namentlich bekannte Verdächtige ermittelt. Knapp 70 Prozent der Verfahren endeten mit einer Einstellung – aus den unterschiedlichsten Gründen: erwiesener Unschuld, fehlender Beweise, weil es sich um Bagatellen handelte.

Einen neuen Höchststand erreichten die Körperverletzungsverfahren. Sie stiegen von 2171 angezeigten Attacken 2015 auf 2453 im vergangenen Jahr. Ähnlich hoch waren die Fallzahlen mit 2381 zuletzt 2012 gewesen. Häufig waren die Angreifer betrunken: „Das haben sie ständig: Die Leute lassen sich zulaufen und dann knallt’s“, beschreibt es Pfohl. Die Zahl der Kapitaldelikte nahm gegenüber dem Vorjahr leicht zu, von 12 auf 15. Bundesweit hatte besonders der so genannte Dönermesser-Mord in Reutlingen Schlagzeilen gemacht, der derzeit am Landgericht verhandelt wird.

Die Tübinger Staatsanwaltschaft im Überblick

Zuständigkeitsbereich Die Ankläger in der Tübinger Charlottenstraße sind für ein großes Gebiet zuständig. Es reicht von Dettenhausen im Norden bis Trochtelfingen im Süden, von Bad Herrenalb im Westen bis Zwiefalten im Osten.

Personal 2016 waren durchschnittlich 74 Personen bei der Tübinger Staatsanwaltschaft beschäftigt. Davon waren 25 Staatsanwälte und -anwältinnen. Nach dem internen Stellenermittlungsschlüssel der Justiz war die hiesige Behörde gemessen an der angefallenen Arbeit nur zu 78 Prozent besetzt, es fehlten 6,5 Stellen. Dieses Jahr sind 2,3 weitere Stellen bewilligt. Außerdem arbeiten dort drei Amtsanwältinnen, sechs Rechtspfleger/innen drei Wachtmeister und 37 Servicekräfte.

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Erstellt:
22.03.2017, 04:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 10sec
zuletzt aktualisiert: 22.03.2017, 04:00 Uhr

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