Wenn die Heimat vom Kirchturm läutet

Von der Entringer Michaelskirche erklingen am Reformationstag drei neue Glocken

Drei Schläge. Dreimal noch der satt-weiche Ton: f’. Dann setzt der Kran die Glocke sachte auf den Kanthölzern ab. Nur wer genau hingesehen hatte, merkte, wie ein Schatten über Reinhold Bauers Gesicht gehuscht war, als er mit dem Klöppel ausholte und der im Jahr 1494 von Pantlion Sidler in Esslingen gegossenen Glocke vorsichtig die Schläge versetzte.

30.10.2017

Von Uschi Hahn

Fest gemauert in der Erden .... So wie Friedrich Schiller es 1799 in seinem „Lied von der Glocke“ beschrieb, wurden am 29. September bei der Firma Bachert in Karlsruhe auch zwei der drei neuen Entringer Glocken gegossen: Dazu läuft die flüssige Bronze mit 1100 Grad in die unterirdisch eingemauerte Hohlform. Kein Wunder, dass da den Gießern, wie schon Schiller schrieb, der Schweiß „von der Stirne heiß“ rinnen muss. Privatbild

Fest gemauert in der Erden .... So wie Friedrich Schiller es 1799 in seinem „Lied von der Glocke“ beschrieb, wurden am 29. September bei der Firma Bachert in Karlsruhe auch zwei der drei neuen Entringer Glocken gegossen: Dazu läuft die flüssige Bronze mit 1100 Grad in die unterirdisch eingemauerte Hohlform. Kein Wunder, dass da den Gießern, wie schon Schiller schrieb, der Schweiß „von der Stirne heiß“ rinnen muss. Privatbild

„Das ist mir schon nachgegangen“, gesteht der Mesner der Entringer Michaelskirche ein paar Tage später über „das letzte Mal“.

Es war genau vor einer Woche, als sich hinter der Michaelskirche im Hof der Alten Schule gut 100 Entringer versammelten, um dabei zu sein, wie ein Hubkran erst die alte Glocke, nach der Inschrift „in dem namen unseres herren jesu und in marien und sankt michaelis ehr“ Dominika genannt, vom Kirchturm holte und die drei neuen Glocken nacheinander hinaufbeförderte. Auch die Kinder des evangelischen Kindergartens und die erste Grundschulklasse aus dem Ort wollten sich das nicht entgehen lassen.

Eine kitzlige Angelegenheit, dieser Glockentransfer. Mit ihren 1520 Kilo passte die bronzene Dominika zwar glatt durch den geöffneten Schallladen des Glockenstuhls. Auch die beiden kleineren Glocken, die auf einem landwirtschaftlichen Ladewagen im Schulhof bereit standen, bereiteten keine Probleme.

Doch da war ja noch die neue Dominika. Mit 1830 Kilo und dem Durchmesser von etwas mehr als 1,4 Meter ist sie deutlich größer als ihre Vorgängerin. Ob sie wohl von den Helfern oben im Turm ungestreift durchs Fenster bugsiert werden kann, war die bange Frage, die sich die Zuschauer stellten. Die Gurte waren so angelegt, dass die Glocke schräg zu ihrem Bestimmungsort schweben würde. Nur so würde es passen, hatten die sorgfältigen Messungen ergeben.

Gleich nach dem Abheben hielt der Kranführer kurz inne. So wie Reinhold Bauer zuvor der Dominika die letzten Schläge verpasst hatte, entlockte er den drei neuen Klanginstrumenten noch am Boden ihre ersten Entringer Töne: kein einmal gestrichenes f, sondern das fürs Geläut der Michaelskirche seit langem empfohlene d’. Das Publikum reagierte mit erleichtertem Klatschen.

Dann war es soweit: Die letzte der drei neuen bronzenen Glocken, gegossen am 29. September in Karlsruhe, begab sich auf ihre hoffentlich für lange Zeit letzte Reise durch die Luft. Vorsichtig wurde sie am Fenster hoch oben in Empfang genommen, leicht in die eine Richtung gekippt, ein wenig gedreht. Dann war die Glocke drin und von unten nicht mehr zu sehen. Das gute Ende einer aufregenden Geschichte.

Begonnen hatte sie im Februar 1942. Im dritten Kriegsjahr gingen in Deutschland die Metallreserven zu Ende. Überall im Land plünderten die Nationalsozialisten die Kirchtürme. Auch Entringen musste zwei Glocken beisteuern: neben der Dominika aus dem 15. Jahrhundert noch die damals kleinste Glocke aus dem Turm, das Schulglöckle aus dem 14. Jahrhundert. Die kleine Glocke wurde eingeschmolzen. Die Dominika nicht. „Da hat der Krieg wohl nicht lange genug gedauert“, kommentiert das Reinhold Bauer mit einem Anflug von Sarkasmus.

Sie kehrte 1948 zurück, war aber sozusagen kriegsversehrt. Der wenig pflegliche Umgang im Glockenlager, wo die wertvollen Klanginstrumente achtlos gestapelt waren, hinterließ unter anderem einen Sprung. Einige Male wurde Entringens bisher größte Glocke repariert. Doch an Erntedank 2015 hörte Bauer sie wieder „scheppern“. Ein Sachverständiger empfahl, sie auch nach einer weiteren Reparatur nur noch maximal zehn Stunden im Jahr zu läuten.

Doch „eine Glocke hat man nicht zum Schonen“, findet Reinhold Bauer. Schließlich ist es die Bestimmung der Dominika, die Gemeinde zu Gottesdienst und Gebet zu rufen. Zunächst rang sich der Kirchengemeinderat dazu durch, eine Glocke mit dem Ton e’ anzuschaffen. „Passt nicht“, urteilte der Glockensachverständige der Landeskirche.

Dann bekam Bauer am 28. November vergangenen Jahres den Anruf eines Entringer Glockenfreundes. Armin Schreiner hatte sich privat eine Glocke gießen lassen, die er nun der Michaelskirche schenken wollte. Mit dem Ton g’’ passe seine, mit der Entringer Kirche verzierte Michaelsglocke genau zu den vorhandenen Glocken. Einen Tag später machte Reinhold Bauer dem Kirchengemeinderat ein Angebot. Wenn die Gemeinde die seit 30 Jahren empfohlene auf d’ gestimmte Glocke als neue Dominika anschaffe, werde er mit seiner Frau Ulrike eine weitere Glocke stiften – mit dem Ton der alten Dominika: f’. Als Betglocke.

Erpressung will Entringens evangelischer Pfarrer Frank Albrecht Schirm das nicht nennen. Doch es sei schon eine „bemerkenswerte Sitzung gewesen“. Der Kirchengemeinderat ließ sich auf den Handel ein. Schirm rechnet für die größte der drei neuen Glocken mit Gesamtkosten von rund 30 000 Euro. Stemmen muss das die Kirchengemeinde allein. „Man bekommt nichts aus Kirchensteuermitteln“, betont der Pfarrer. Aber die Spendenbereitschaft sei groß. „Für Glocken spenden die Leute mehr als für andere Sachen“, hat Schirm festgestellt.

Warum das so ist? Reinhold Bauer hat eine Antwort. „Glockenklang“ sagt der Mesner, sei „auch ein Stück Heimat“. Das habe etwas mit „Identifizierung“ zu tun, glaubt er. Ihm zum Beispiel „liegen die Glocken schon seit meiner Kindheit am Herzen.“ Somit hat die Entringer Michaelskirche nun neun statt bisher sieben Glocken. Die alte Dominika wird demnächst ihre wohl letzte Reise antreten: nach Herrenberg, wo sie im Glockenmuseum einen Ehrenplatz erhält. Sie hing bereits auf dem Turm der Michaelskirche, als vor 500 Jahren Martin Luther mit seinem Thesenanschlag die Reformation anstieß.

Ihre Nachfolgerin, die neue Dominika, wird am Reformationstag zum ersten Mal weit übers Land zu hören sein. Ihre vom ehemaligen Herrenberger Stiftskirchen-Dekan Dieter Eisenhardt gestaltete Zier weist sie als Reformationsglocke aus: In der Krone wachsen sechs Engel aus den Henkeln. Sie halten lateinische Schriftbänder mit den vier Soli Luthers in Händen: allein Christus, allein der Glaube, allein die Gnade, allein die Schrift. Auf dem fünften Band steht: die Kirche lebt in ständiger Erneuerung. Das sechste Band ist deutsch beschriftet: Entringen 1517 – 2017.

Führungen zu den neuen Glocken

In einem Festgottesdienst am morgigen Reformationstag, 31. Oktober, werden die drei neuen Entringer Glocken in der Michaelskirche in Dienst genommen. Nacheinander werden sie einzeln aufgerufen und angeschlagen. Anschließend ist ein kleiner Empfang geplant.

Am Nachmittag ist die Kirche für Interessierte geöffnet. Der Mesner Reinhold Bauer bietet um 14, 15 und 16 Uhr jeweils eine Turmführung zu den Glocken an.
Um 17 Uhr sollen sie dann alle zusammen läuten. Am Mittwoch,
1. November, führt Bauer zu denselben Uhrzeiten zu den nun neun Glocken im Turm der
Michaelskirche.