Behörde verhindert Arbeitsplatz für Flüchtling in Kusterdingen

Vom Stichtag war nie die Rede

Ein Flüchtling aus Kusterdingen vertraute den Behörden, reiste zurück nach Albanien, stellte seinen Antrag. Doch die Botschaft lässt ihn nicht ins Land.

06.05.2017

Von Manfred Hantke

Holger Rothbauer Archivbild: Sommer

Holger Rothbauer Archivbild: Sommer

Jetmir Qerimi ist „ein Schaffer“, sagt Walter Erbe, einer der Geschäftsführer von der Reutlinger Zimmerei „Das Syndikat“. Erbe lernte ihn durch das Projekt „Flüchtlinge am Werk“ kennen. Weil der 33-Jährige auch „relativ viel Bauerfahrung“ hat, wollte der Geschäftsführer den Albaner einstellen. Denn es sei ja gar nicht einfach, fähiges Personal zu finden.

Erbe aber wartet jetzt schon über ein Jahr auf seinen neuen Mitarbeiter. Denn Qerimi hatte sich entschlossen, das Angebot der Bundesregierung anzunehmen. Danach sollte er laut Beschäftigungsverordnung vom 24. Oktober 2015 seinen Asylantrag zurückziehen, nach Albanien ausreisen und dort bei der Deutschen Botschaft ein Arbeitsvisum beantragen, um seinen Job in Reutlingen antreten zu können. Das tat er. Qerimi reiste am 6. Juni 2016 aus, das Visum hat er bis heute nicht, er ist immer noch in Albanien.

Plötzlich gab es zwei Fristen

Denn die dortige Deutsche Botschaft verweigert ihm die Wiedereinreise, weil er – wie die Verordnung in Paragraf 26, Absatz 2 festhält – nicht „unverzüglich“ ausgereist sei. „Unverzüglich“ meint in der Interpretation der Botschaft eine Ausreise „ohne schuldhafte Verzögerung“, wie Qerimis Tübinger Anwalt Holger Rothbauer erläutert. Sie müsse nicht „sofort“ erfolgen, eine bestimmte Zeit zum Überlegen und zum Ordnen persönlicher Verhältnisse wäre ihm laut Botschaft zugestanden worden. Die „unverzügliche Ausreise“ beziehe sich demnach auf den 24. Oktober 2015. Das war der Tag, an dem die Verordnung in Kraft trat. Der 33-Jährige ist demnach über sieben Monate später ausgereist.

Die Sache hat jedoch einen Haken: Qerimi, der am 24. Juni 2015 einen Asylantrag gestellt hat, war stets in Kontakt mit der Ausländerbehörde des Landkreises, sagt Anwalt Rothbauer. Dort sei ihm bis zu seiner Ausreise nie ein Stichtag mitgeteilt worden. Auch Erbe bestätigt: „Es ging nie um Fristen.“ Der Albaner erhielt am 4. April 2016 seinen Arbeitsvertrag, Anfang Mai eine Wohnungszusage.

Wie man „unverzüglich“ definieren solle, sei nicht Sache der Ausländerbehörden, so Martina Guizetti, Pressesprecherin des Tübingen Landratsamtes. Eine Frist habe das Landratsamt erst am 9. Juni 2016 erreicht – und zwar im Rahmen einer Dienstbesprechung aller unteren Ausländerbehörden im Regierungsbezirk Tübingen, so Guizetti. Und am 14. Juni 2016 sei eine entsprechende Mitteilung auch der Tübinger Ausländerbehörde zugegangen. Während einer Ausländerreferentenbesprechung in Berlin sei klargestellt worden, dass Ausreisen nach dem 4. Mai 2016 „keinesfalls“ mehr als „unverzüglich“ gewertet werden könnten.

Genau an diesem 4. Mai hatte sich Qerimi entschlossen, auszureisen und ging mit seinem Flüchtlingsbetreuer Karl Binder zur Tübinger Ausländerbehörde. Am 9. Juni, erst recht am 16. Juni war der Albaner bereits in seinem Heimatland und hatte von der Frist 4. Mai 2016 nichts mitbekommen. Eine „schuldhafte Verzögerung“ Qerimis sieht Rothbauer daher nicht, sein Mandant hatte den letzten Kontakt mit der Ausländerbehörde am 6. Juni gehabt.

Doch die Situation ist noch verworrener: Vom Auswärtigen Amt hat Rothbauer erfahren, dass intern die Ausreisefrist auf den 31. Dezember 2015 gelegt wurde. Das stehe nirgends, sei nie kommuniziert worden. Das Auswärtige Amt ist auch zuständig für die Botschaften, ihr Chef war 2015 der jetzige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Eine am Donnerstagvormittag gestellte telefonische und schriftliche Anfrage ans Auswärtige Amt zum Stichtag 31. Dezember 2015 blieb bis zum Redaktionsschluss unbeantwortet.

So gibt es also zwei Fristen: eine nicht öffentlich kommunizierte Frist des Auswärtigen Amtes (31. Dezember 2015) und eine der Tübinger Ausländerbehörde frühestens am 9. Juni 2016 bekanntgewordene Frist, die sich allerdings auf ein bereits abgelaufenes Datum (4. Mai 2016) bezieht.

„Absurd“, so Rothbauer: „Weshalb muss ein Ausländer früher von einer Vorschrift wissen als die Ausländerbehörde, die ihn ja berät?“ Zumal die Ausländerbehörde erst nach der Ausreise von Qerimi von einer Frist in Kenntnis gesetzt wurde. Der Tübinger Anwalt hat deshalb Klage beim Verwaltungsgericht in Berlin eingereicht. Die Verhandlung ist kommenden Dienstag, 9. Mai, in Berlin. Doch nicht nur Qerimi fühlt sich von der Bundesregierung hintergangen. Auch Flüchtlingsbetreuer Binder ist tief enttäuscht. Der Fall habe auch seinem Ruf als Flüchtlingshelfer geschadet. Im „guten Glauben“ habe er die Ausreise dem Albaner empfohlen. Die „Beschäftigungsverordnung“ sei nur dazu da, „um die Menschen aus Deutschland wegzubringen“.

Arbeitsplatz wird freigehalten

Doch Rothbauer kennt auch Fälle, in denen die Botschaften in den Westbalkanstaaten ganz anders entschieden. Auch dem Dettenhäuser Flüchtlingsbetreuer Klaus Horrer ist aus eigener Arbeit solch ein Fall bekannt: Sein Schützling aus dem Kosovo reiste im März 2016 aus und stellte bei der Deutschen Botschaft in Pristina den Antrag auf Arbeitsvisum. Es habe zwar lange gedauert, so Horrer, letztlich aber konnte sein Schützling im Herbst 2016 wieder einreisen und schafft seitdem in einem Dettenhäuser Betrieb.

Sollte Rothbauer vor dem Verwaltungsgericht Recht bekommen, kann Qerimi seine vom Syndikat freigehaltene Arbeitsstelle antreten. „Wir halten uns an die Zusage“, so Geschäftsführer Erbe.

Viele „nicht unverzüglich“ Ausgereiste wurden abgelehnt

Durch die „Beschäftigungsverordnung“ wurden Albanien, Kosovo und Montenegro als sogenannte „sichere Herkunftsstaaten“ eingestuft. Im Paragraf 26, Absatz 2, regelt die Verordnung vom 24. Oktober 2015, dass Staatsangehörige von Westbalkanländern bis einschließlich 2020 ein Arbeitsvisum bekommen können. Die Zustimmung darf jedoch nur erteilt werden, wenn der Antrag bei der jeweils zuständigen deutschen Auslandsvertretung im Herkunftsstaat gestellt wurde. Hat der Antragsteller in den 24 Monaten vor Antragstellung Geld nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, darf die Zustimmung nicht erteilt werden. Das aber gilt nicht für jene, „die nach dem 1. Januar 2015 und vor dem 24. Oktober 2015 einen Asylantrag gestellt haben“, am 24. Oktober 2015 in der Bundesrepublik waren und „unverzüglich ausreisen.“ Laut Bundesregierung, die auf eine Kleine Anfrage von Bündnis90/Die Grünen im Februar 2017 antwortete, wurden vom 1. Dezember 2015 bis zum 31. Dezember 2016 in den Westbalkanstaaten 27 355 Anträge gestellt. 18 806 Arbeitsvisa wurden erteilt, 4903 abgelehnt. „Ein großer Teil der Ablehnungen“ betreffe diejenigen, die „nicht unverzüglich“ ausgereist sind, heißt es in der Antwort.

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Erstellt:
06.05.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 01sec
zuletzt aktualisiert: 06.05.2017, 01:00 Uhr

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