Per Flatrate ins Inkasso-Chaos

Viele Jugendliche verlieren den Überblick über monatliche Verbindlichkeiten

Flatrate fürs Handy, ein Vertrag mit dem Fitnessstudio – und dann noch ein Kredit für das Auto. Unmerklich läuft vielen die monatliche Finanzierung ihres Lebensstils aus dem Ruder. Knapp 1200 Menschen suchen jährlich bei der Tübinger Schuldnerberatung Hilfe. Das TAGBLATT sprach mit einem jungen Mann, der gerade versucht, alles wieder in den Griff zu bekommen.

30.11.2015

Von Angelika Bachmann

Viele Jugendliche verlieren den Überblick über monatliche Verbindlichkeiten

Zum Gespräch im SCHWÄBISCHEN TAGBLATT bringt Valentin Richter (Name von der Redaktion geändert) eine schwarze Mappe mit. Er trägt sie bei sich wie einen guten Vorsatz. Der 22-Jährige, der zur Zeit eine Ausbildung macht, ist gerade dabei, manche Dinge in seinem Leben neu zu sortieren. Auch in der Mappe: Rechnungen, Schreiben von Inkasso-Büros, Verträge mit Mobilfunkfirmen. Geholfen hat ihm dabei Heiner Gutbrod von der Tübinger Schuldnerberatung. Seither ist aus dem wüsten Packen an Rechnungen eine halbwegs überschaubare Dokumentation geworden. Das wertvollste für Valentin Richter war dabei, dass er jetzt weiß: Was da vor ihm liegt, ist in den Griff zu bekommen. Es gibt Hilfe und es gibt die Möglichkeit, aus diesem Schuldenhaufen heraus zu kommen. „Wenn ich das schaffe, bin ich heilfroh!“ sagt Richter.

Irgendwie ist er da so reingerutscht, nachdem er mit 20 zu Hause ausgezogen war. Er wohnte bei Freunden – musste dort keine Miete zahlen. Da sollte man mit den 600 Euro, die er monatlich als Bufdi im Freiwilligendienst zur Verfügung hatte, doch ganz gut über die Runden kommen.

Was dann schief gelaufen ist, kann er heute einigermaßen exakt auflisten. Wenn er darüber nachdenkt, wann die Spirale begann, landet er sehr schnell bei seinem ersten Kredit. 5000 Euro hat er für ein Auto aufgenommen. Das Auto hatte nach 80 Kilometern einen Motorschaden. Die monatlichen 97 Euro für Tilgung und Zinsen musste Richter der Bank trotzdem bezahlen. Nicht von Pappe auch die monatliche Rechnung, die er an die Telekom überweisen sollte. Die Flatrate für Handy, Internet, Festnetz, und für das Entertainment-Angebot der WG (dort wohnte er schließlich mietfrei) belief sich monatlich auf 140 Euro.

Er habe sich gedacht, er werde das schon irgendwie bezahlen können, erinnert sich Richter. Als es dann doch knapp wurde, suchte er im Internet nach Möglichkeiten, an Geld zu kommen. Fündig wurde er bei auxmoney.de, einem Online-Kreditmarktplatz, der Geld von privaten Anlegern als Kredit vermittelt. Auxmoney wirbt damit, Kreditanfragen „schnell und einfach, ohne lästigen Papierkram zu erledigen“. Valentin Richter registrierte sich mit Namen und Adresse. Einen Kredit nahm er zwar nicht in Anspruch. Zwei Wochen später erhielt er aber eine Kreditkarte der „Advanzia Bank“ mit einem Verfügungsrahmen von 1000 Euro. „Ich habe mich gewundert, dass die mir das schicken, ohne dass sie irgendwas von mir wissen“, sagt Richter. Genutzt hat er die dann aber doch, erst ein paar Kleinigkeiten gekauft. Bis die Kleinigkeiten sich auf 900 Euro summierten.

Aus 5,06 Euro wurden

43,51 Euro Schulden

Eine Rechnung verbummelt – „wie das halt so ist“ – die andere einfach nicht aufgemacht und in den Mülleimer geworfen, wenn das Konto mal wieder blank war. „Meine Mitbewohnerin hat das auch immer so gemacht.“ Dann kamen die ersten Schreiben der Inkasso-Unternehmen. Von da an wurde es heillos. Und extrem unangenehm.

Die Telefonate mit den Inkasso-Büros wurden zunehmend garstig. Bald stand der erste Außendienstler vor seiner Haustür. Irgendwann wusste Richter gar nicht mehr, welches Inkasso-Unternehmen für welchen Gläubiger unterwegs war. Für das Fitness-Studio, für das er einen Zweijahresvertrag unterschrieben hatte (obwohl er nur einmal dort war)? Für die Telekom? Und wann soll er die kostenpflichtige Inlandsauskunft Telegate in Anspruch genommen haben? Hauptforderung: 5,06 Euro. Plus Mahngebühr und veranschlagten Inkassokosten: 43,51 Euro.

Fast ein Jahr lang habe er einfach die Decke über den Kopf gezogen, berichtet Richter. Dann habe er versucht, aus den vielen Rechnungen und Forderungen einen Überblick zu gewinnen. Er landete bei mutmaßlichen 23000 Euro Schulden. Da rief er die Schuldnerberatung an.

Es klingt sehr einfach, was Valentin Richter heute sagt: „Man muss wissen, wie viel man im Monat zur Verfügung hat und muss versuchen, damit klar zu kommen.“ Genau das scheint aber vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen immer schwerer zu fallen. Viele machten sich nicht bewusst, welche Verbindlichkeiten sie eingehen – und welche Kosten und Folgekosten sie jeden Monat aufbringen müssten, sagt Ulrike Fetscher von der Schuldnerberatung Tübingen. „Vorausschauend hochzurechnen“ liege nicht im Trend. Häufig seien es die Eltern, die bei zu hoch angesetzten Handy-Verträgen in die Bresche springen. Viele Abstürze würden so verhindert, weiß Fetscher.

An die 1200 Menschen suchten 2014 bei der Schuldnerberatung Tübingen Rat. Bei einem sehr großen Anteil, vor allem der erwachsenen Schuldner, war eine Notsituation Auslöser der Schuldenkrise, so Fetscher. Sie hätten, meist aus gutem Grund, einen Kredit aufgenommen und hatten einen Finanzierungsplan. Dann ging etwas schief, sie konnten den Kredit nicht bedienen, nahmen einen anderen Kredit auf, um den ersten abzubezahlen. „Das ist typisch: Und dann blickt man bald nicht mehr durch.“

Bei der Beratung von jugendlichen Schuldnern liege der Fokus darauf, dass sie „zu verantwortungsvollen Konsumenten“ werden. Sie müssten lernen, sich mit ihren Wünschen auseinanderzusetzen und mit den allgegenwärtigen Werbeangeboten etwa für immer noch tollere und teurere Handys zurechtzukommen, so Fetscher.

Manche verlangen

horrende Gebühren

Um seine Finanzen sortieren zu können, braucht man Durchblick und einen klaren Kopf. Panik ist dabei wenig hilfreich. Für viele Klienten wie Valentin Richter ist es deshalb beruhigend zu erfahren, dass es einen Pfändungsschutz gibt: Der beträgt 1050 Euro. Mit seinem Azubi-Gehalt liegt Valentin Richter weit unterhalb dieses Betrags.

In einem ersten Schritt werden bei der Schuldnerberatung die Forderungen sortiert und Prioritäten vergeben: Wichtig sei, dass man Bußgelder bezahlt – weil damit sonst Strafen verbunden sind, so Fetscher. Zudem genieße alles, was für den Lebensalltag notwendig ist, Priorität: Miete, Strom, Unterhalt.

Und über den Rest könne man verhandeln. Übrigens auch mit Inkasso-Unternehmen, mit denen Richter und die Mitarbeiter der Tübinger Schuldnerberatung ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben. „Es gibt darunter schwarze Schafe“ – die mit gewaltigem Drohpotenzial bis hin zur Zwangsvollstreckung die Schuldner in Angst versetzten. „Wenn da ein paar kräftige Jungs vom Außendienst vor der Tür stehen, ist das nicht sehr angenehm“, sagt Fetscher. Oft würden die Schuldner auch in so genannte Raten-Verträge gedrängt. Für die dann zusätzliche horrende Gebühren aufgebrummt würden.

Valentin Richter wiederum hat die Erfahrung gemacht, dass man mit Inkasso-Büros auch reden und verhandeln kann. Nachdem er einem Unternehmen erklärt habe, dass er auch in den kommenden zwei Jahren nur Ausbildungsgehalt beziehen werde, habe man ihm das Angebot gemacht, eine Forderung von 900 Euro auf 400 Euro zu reduzieren. Wenn er die bezahle, sei der Rest erlassen. „Das habe ich dann gemacht.“

Und wie hat Richter sein Monatsbudget jetzt geregelt? Neben den Ausgaben für den Lebensunterhalt habe er an monatlichen Fixkosten nur noch die Rückzahlungen für den Kredit. Ein Handy-Vertrag läuft – mit weitaus günstigerer Flatrate – jetzt auf seinen Vater. Ansonsten zahle er seit einem Jahr nur noch bar. „Eine Kreditkarte will ich nie wieder in meinem Leben sehen.“

Wenn das Schreiben vom Inkasso-Büro kommt

Ein Inkasso-Büro ist ein Dienstleister, der im Auftrag von Unternehmen Schulden eintreibt. Viele Händler, Supermärkte, Telekommunikationsanbieter aber auch Versicherungsunternehmen beauftragen solche Inkasso-Unternehmen, bei denen es sehr unterschiedliches Geschäftsgebaren gibt.

Verbraucherzentralen und Schuldnerberatungen raten dazu, die Forderungen von Inkasso-Büros genau zu prüfen. Neben der ursprünglichen Hauptforderung und Mahngebühren verlangen manche Büros zum Teil horrende Gebühren.

Dabei sind auch die Gebühren für Inkassounternehmen rechtlich gedeckelt und dürfen die entsprechenden Posten in der Rechtsanwaltsgebührenordnung nicht überschreiten. Hilfreiche Hinweise, auch zur Frage, welche Gebühren gerechtfertigt sind, geben die Verbraucherzentralen online unter www.verbraucherzentrale.de/inkassounternehmen. Eine kostenlose Beratung gibt es bei der Schuldnerberatung im Landkreis Tübingen, die vom Verein für Schuldnerberatung, von der Stadt Tübingen und der Diakonie bezuschusst wird.

Die Schuldnerberatung ist für eine erste Anfrage unter Telefon 07071/930 4871 zu erreichen, Montag bis Donnerstag von 9 bis 11 Uhr. Die Wartezeit beträgt mehrere Monate, in Notfällen werden aber schneller Termine vereinbart. Es gibt zudem ein spezielles Beratungsangebot für Jugendliche – dort gibt es keine Wartezeiten.

Auf der Internetseite der Schuldnerberatung Tübingen finden sich zudem Links zu empfehlenswerten Online-Schuldner-Beratungen.

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Erstellt:
30.11.2015, 16:00 Uhr
Lesedauer: ca. 5min 03sec
zuletzt aktualisiert: 30.11.2015, 16:00 Uhr

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