Interview mit „Heimatland“-Regisseur Michael Krummenacher

Über der Schweiz braut sich was zusammen

Die Schweiz als Ziel einer nahenden Katatstrophe – oder als Ort einer kollektiven Hysterie: Im Episodenfilm „Heimatland“ legt sich eine düstere Wolke über das wohlsituierte Alpenland. „Sie kommt nicht von außen, sondern von innen“, sagte Regisseur Michael Krummenacher im „TAGBLATT“-Interview.

26.07.2016

Von DOROTHEE HERMANN

Produzentin Gwendolin Stolz und „Heimatland“-Regisseur Michael Krummenacher vor dem Arsenal.Bild: Faden

Produzentin Gwendolin Stolz und „Heimatland“-Regisseur Michael Krummenacher vor dem Arsenal.Bild: Faden

Tübingen. Den Film durchzieht von Anfang an ein diffuses Gefühl der Bedrohung. Die mysteriöse Wolke über der Schweiz wird immer größer. Flüge werden gestrichen, Computer stürzen ab, sympathische Figuren sind rar. Ein Freier sitzt nach dem erkauften Sex frustriert im Taxi. Junge Fußballfans mutieren zu Schlägern mit Sturmhauben und Pyrozubehör. In einem Hinterzimmer brüllt eine Bürgerwehr. Nur die Besserverdiener in Kostüm oder Anzug bewegen sich in kühler Sachlichkeit durch graue Betonkomplexe und versuchen, die Kontrolle zu behalten, während offene Gewaltakte die Ausnahme bleiben.

Die Wolke ist eine Metapher, sagt Regisseur Michael Krummenacher im TAGBLATT-Gespräch. „Sie kommt nicht von außen, sondern von innen.“ Das unheimliche Wetterphänomen sei Ausdruck von etwas, das sich in der Schweiz zusammenbraut.

Anlass für den düsteren Episodenfilm, den der 31-Jährige gemeinsam mit neun Kolleg(inn)en gedreht hat, war der Rechtsruck in der Schweizer Politik. „Wir wollten nicht länger schweigend zuschauen.“ Es gebe viel Angst, teilweise geschürt von einer populistischen Politik, aber auch unbegründete Angst, „dass ein Sturm kommt und droht, die Schweiz zu vernichten“.

Der Film habe in der Schweiz ziemlich polarisiert, berichtet Krummenacher. Vor allem Rechte hätten sich empört und dem Regieteam „ziemlich wüste Briefe mit Drohungen und Beschimpfungen“ geschickt, richtige Briefe, keine E-Mails. Darin hieß es, sie seien „kommunistische Landesverräter“, oder sie förderten „die Islamisierung der Schweiz“.

Der Filmtitel ist doppeldeutig. Das Wort „Heimatland“, wird in der Schweiz auch als Fluch benutzt, sagt Krummenacher. Welche der Episoden von ihm stammt, verrät er nicht. „Wir wollten keine Kurzfilmsammlung, sondern einen Film, der als ganzes funktioniert“, sagt die in Tübingen aufgewachsene Produzentin Gwendolin Stolz. Die ehemalige Tübinger Jugendgemeinderätin präsentierte vor ein paar Monaten ihr Debüt als Produzentin im Kino Arsenal: „Sibylle“, ein Familiendrama, das zu einem Mystery-Thriller wird, wie sie sagt. Im Herbst dreht sie selbst, einen Science-Fiction-Film.

Im zunehmend ungemütlichen „Heimatland“ kapseln die Figuren sich selber ab – wie die Schweizer Politik in den letzten Jahren, sagte Krummenacher: Es dominiere das Bewusstsein, „so eine komische Insel zu sein mitten in Europa“, in Brexit-Zeiten ziemlich aktuell. „Für uns ist unser Land Fluch und Segen zugleich“, so der Filmemacher. „Wir mögen ja die Schweiz. Aber nicht, wie sich das Land in den letzten Jahren entwickelt.“

Für einen Weltuntergangsfilm wie von Roland Emmerich, bei dem am Ende ganz Zürich weggeweht wird, war einfach nicht genug Geld da. „Wir wollten herausschälen, was sich gesellschaftlich verändert“, sagt der Regisseur. Den als so freundlich geltenden Schweizern hinter die Maske schauen: Die Gewissheit „Uns kann nichts passieren“ gelte nicht mehr. „Das demokratische System, in dem wir leben, ist sehr fragil geworden.“

In einem US-amerikanischen Film würde es den Helden geben, der sein Kampfflugzeug in die Wolke steuert, meinte Krummenacher: „Und dann ist sie weg.“ Für die Produzentin führt „Heimatland“ über das Bedrohungsszenario hinaus zu grundsätzlicheren Fragen: „Was lassen wir zu auf politischer Ebene? Wie reagiert der Einzelne in so einem Ausnahmezustand?“

Der Tübinger Arsenal-Verleih bringt die fast ausschließlich mit Laien gedrehte Dystopie in die deutschen Kinos. „Wir wollten Gesichter, die man noch nicht kennt, die noch unverbraucht sind und die auch ihren Dialekt mitbringen“, so Krummenacher. „Wir wollten keine Schauspieler aus Zürich, die dann so tun, als würden sie so sprechen wie die Bürgerwehr im Dorf.“

Info „Heimatland“ läuft ab Freitag, 29. Juli, im Kino Arsenal.

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Erstellt:
26.07.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 44sec
zuletzt aktualisiert: 26.07.2016, 01:00 Uhr

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