Übrigens

Tübingen soll nicht schöner werden

Der Flaneur hat es gut in Tübingen. Hier kann der Blick schweifen und allerlei Anziehendes zum schwärmerischen Innehalten finden. Dafür gebührt dem Gemeinderat Dank. Vor knapp zwei Jahren erlaubte das Gremium dem Textilkonzern H&M, seine Filiale am Holzmarkt um eine Abteilung für Herrenmode zu erweitern. Aus den benötigten Räumlichkeiten musste lediglich der Lebensmitteldiscounter Netto weichen.

13.06.2016

Von Kathrin Löffler

Die Effekte sind unübersehbar. Seither tragen Tübingens Männer ausschließlich schwedische Lässigkeit, dandyesken Chic und sehr geschmackssicher Skinny Jeans durch die Straßen. Untaillierte Kurzarmstreifenhemden, Nachhaltigkeitsbewusstsein signalisierende durchlöcherte Strickfetzen und so sinnfrei wie unapart mit Funktionswear bekleidete Büroangestellte sind aus dem Stadtbild verschwunden. Es ist ein Fest für Ästheten.

Bald wird es noch reizvoller. Die Verwaltung möchte auch das architektonische Inventar Tübingens von seinen Unansehnlichkeiten befreien. Geschmacklose Sprühdosenstümpereien haben sich in jüngster Vergangenheit nämlich drastisch vermehrt, moniert man auf dem Rathaus. Diese Verschandelungen sollen aus der sonst makellosen Häuserlandschaft wieder ausradiert werden. Oberbürgermeister Boris Palmer trägt sich mit dem Gedanken einer gemeinschaftlichen Graffiti-Putzete. Seine Idee: Bürger helfen, schäbige Krakeleien von betroffenem Mauerwerk zu scheuern. Die Sache ist nicht unkniffelig. Immerhin hat das Thema Graffiti längst den Interessensbereich der Wissenschaften erreicht. Soziologen, Kunsthistoriker und Rhetoriker bescheinigen den Wandmalereien politische Botschaften und kulturelle Aussagekraft, gar subversives Potenzial.

Doch man darf in dieser Angelegenheit auf die Stadtoberen vertrauen. Gewiss wird im so freiheitlich bunten Tübingen kein spießbürgerliches, alles hinwegschrubbendes Säubern stattfinden. Ganz bestimmt gibt es Kundige im Rathaus, die zwischen schlichten Druckbuchstabenfolgen und Streetart unterscheiden können. Und mit Sicherheit bemächtigt sich hier niemand der willkürlichen Deutungshoheit zu entscheiden, was für das Betrachterauge gefällig zu sein hat und was nicht.

Mit seinem Vorhaben ist Palmer auf der Höhe der Zeit. In den vergangenen Jahren wurde bundesweit eine Reihe von Preisen für kollektive Stadtverschönerungsaktionen ausgelobt. Sie heißen Social-Design- oder Urban-Living-Award und fordern: Das Aufhübschen des Stadtraums soll der Kreativität seiner Bewohner entspringen und nicht institutionell diktiert werden, dem Gemeinwohl dienen und freilich ökologisch richtig Sinn machen. Die Ergebnisse überzeugen wirklich jeden mit Gespür fürs Anmutige: In Berlin etwa verbauen sie Regenschirme zu Dächern und Autoreifen zu Sitzgelegenheiten. Und Holländer haben eine halbdurchsichtige Tüte entwickelt, in der Menschen ihre ausgebrauchten Habseligkeiten auf der Straße aussetzen und anderen zur Mitnahme anbieten können. Man stelle sich vor: Zu all den modrigen Bücherkisten an Tübingens Hauseingängen gesellten sich bald Plastikbehältnisse voll möchtegernantiquarischen Kruschts und Myriaden von Windlichtgrausigkeiten. Wäre das nicht schön? Ach Tübingen, möchte man seufzen: Bleib ruhig ein wenig hässlich.