Vielfache Gewalteinwirkung

Tötung der Ehefrau: Gericht steht vor schwieriger psychologischer Abwägung

Der 71-jährige Textilkaufmann aus Kirchentellinsfurt, der im Streit seine 69-jährige Ehefrau getötet haben soll, war trotz einer schweren Depression zur Tatzeit allenfalls vermindert schuldfähig. Die Entscheidung darüber muss das Schwurgericht Tübingen finden.

30.09.2016

Von DOROTHEE HERMANN

Symbolbild: Sommer

Symbolbild: Sommer

Tübingen/Kirchentellinsfurt. Der Angeklagte soll seine Ehefrau am 10. März 2016 gegen vier Uhr morgens im gemeinsamen Haus in Kirchentellinsfurt getötet haben. Er soll in jener Nacht auch versucht haben, sich das Leben zu nehmen. Derzeit muss sich der Mann wegen Totschlags vor dem Schwurgericht verantworten (wir berichteten).

Der Sohn des Paars hatte seine Mutter am späten Abend des 10. März leblos aufgefunden und Polizei und Rettungskräfte eingeschaltet. Das letzte Lebenszeichen der Eltern habe es am Abend des 8. März gegen 18 Uhr gegeben.

Der Angeklagte litt zur Tatzeit an einer schweren Depression, scheute aber davor zurück, ärztliche Hilfe zu suchen. Er soll davon gesprochen haben, sich das Leben nehmen und seine Frau „mitnehmen“ zu wollen. Dass sie das entschieden ablehnte und darauf bestand, er brauche einen Arzt, soll Anlass für den Streit gewesen sein.

Seine Frau hätte von ihm Dinge gefordert, die er aufgrund seiner Krankheit nicht hätte erbringen können, soll der Angeklagte im Beisein einer Kriminaltechnikerin gesagt haben, die ihn in der Folgenacht zur Spurensicherung in der Tübinger Klinik aufsuchte, wo er unter anderem wegen Schnittverletzungen behandelt wurde. Dann sei es eskaliert, habe er weiter berichtet. Er habe seine Frau geschlagen, gedrückt und gewürgt, und plötzlich sei sie tot gewesen, so die Kriminalbeamtin.

Die Gerichtsmedizinerin Dr. Iris Schimmel fand bei der Getöteten „sehr, sehr zahlreiche Verletzungen“, darunter solche, die entstehen, wenn jemand bereits am Boden liegt. Todesursache waren mehrfache Rippenbrüche, die zu einer Herzquetschung führten.

„Sie ist das Beste, was ich je eingekauft habe“

„Rippenbrüche in diesem Umfang sind sehr selten“, sagte die Gerichtsmedizinerin. Herbeigeführt wurden sie aller Wahrscheinlichkeit nach durch Knien oder Sitzen auf dem Brustkorb – vor allem, wenn man die körperlichen Unterschiede zwischen der Getöteten und dem Angeklagten in Betracht ziehe. Die zirka 1,62 Meter große Ehefrau wog etwa 65 Kilo. Der Angeklagte soll damals 90 Kilo auf die Waage gebracht haben, bei einer Körpergröße von 1,82 Meter. Die Gutachterin stellte weitere Verletzungen unter anderem am Ohr, am Kopf und am Hals sowie Spuren von Abwehrhandlungen fest.

Der 71-Jährige leidet an einer wiederkehrenden Depression, die man früher als „endogen“ bezeichnet hätte, also nicht durch belastende Lebensumstände hervorgerufen, sagte der psychiatrische Gutachter Dr. Stephan Bork: „Man sieht Probleme und Belastungen, wo keine sind.“ Die Depression des Angeklagten sei so gravierend, dass sie juristisch einer krankhaften seelischen Störung entspreche. Dennoch sei dessen Schuld- oder Steuerungsfähigkeit nicht aufgehoben gewesen: Dagegen spreche das lang hingezogene Tatgeschehen.

Ob der Angeklagte zumindest vermindert steuerungsfähig war, hängt nun davon ab, wie sich der Tatablauf dem Gericht darstellt: Wenn der Beschuldigte bereits mit suizidalen Handlungen begann, bevor er seine Frau angriff, sei eine verminderte Steuerungsfähigkeit nicht plausibel, argumentierte Bork.

Für Staatsanwältin Bettina Winckler hat sich der Angeklagte über den Willen seiner Ehefrau hinweggesetzt, die bekundet habe, sie wolle nicht mit dem Angeklagten aus dem Leben scheiden. Daraufhin habe dieser den gemeinsamen Suizid „durchsetzen wollen“, wie er im Gespräch mit Bork geäußert habe. Sie bat den Gutachter, zu wiederholen, wie der Angeklagte die Beziehung zu seiner Frau beschrieb. Bork zitierte den Mann: Sie hätten nie Streit gehabt. „Sie ist das Beste, was ich je eingekauft habe.“

Ein weiterer Tübinger Psychiater, der den Angeklagten in zwei früheren Krisen behandelt hatte, sagte als Zeuge aus. Vor 20 Jahren hatte er bei dem Mann eine schwere Depression mit psychotischen Symptomen diagnostiziert, die sich in einem Verarmungswahn und hypochondrischen Zwangsvorstellungen äußerten. Auch damals soll der Textilunternehmer Suizidgedanken gehegt haben, die sich auch auf seine Frau bezogen. „Eine stationäre Behandlung wäre angezeigt gewesen“, sagte der Zeuge. „Dagegen hat er sich immer gewehrt.“ Die Ehefrau habe das mitgetragen (und auch die Kinder). „Die Familie stand zu ihm.“ Es folgte eine eineinhalbjährige Behandlung durch Gespräche und Medikamente. „Er hat die Krankheit nie richtig akzeptiert“, sagte der Psychiater. „Er wollte gesund sein.“

Der Prozess wird heute Morgen mit den Plädoyers fortgesetzt. Das Urteil könnte am Nachmittag folgen.

Info: Vorsitzender Richter: Christoph Sandberger; Beisitzer: Thomas Geiger, Johannes Munding; Schöffen: Gaby Bruder, Manfred Knöll. Staatsanwältin: Bettina Winckler. Nebenklage: Andrea Sautter. Verteidiger: Steffen Kazmaier, Thomas Kommer. Gutachter: Dr. Stephan Bork, Dr. Iris Schimmel.

Zum Artikel

Erstellt:
30.09.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 10sec
zuletzt aktualisiert: 30.09.2016, 01:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter Wirtschaft: Macher, Moneten, Mittelstand
Branchen, Business und Personen: Sie interessieren sich für Themen aus der regionalen Wirtschaft? Dann bestellen Sie unseren Newsletter Macher, Moneten, Mittelstand!