„Ein kriminelles System“

Sportsoziologe Digel kritisiert Putin und Co. – Umdenken beim IOC gefordert

Von den vielen Milliarden, die das IOC einnimmt, soll ein Anti-Doping-Fonds finanziert werden. Das fordert Helmut Digel. Die Russen kritisiert er scharf.

27.07.2016

Von WOLFGANG SCHEERER

Helmut Digel meint: Das IOC sollte sein Geld nur Mitgliedsverbänden geben, die sich an Regeln halten. Foto: dpa

Helmut Digel meint: Das IOC sollte sein Geld nur Mitgliedsverbänden geben, die sich an Regeln halten. Foto: dpa

Herr Professor Digel, die IOC-Entscheidung, die russischen Athleten nicht komplett auszusperren in Rio, sorgt weiter für heftige Diskussionen in der Sportwelt. Wie sehen Sie den Fall?

HELMUT DIGEL: Der Schutz und die faire Behandlung sauberer Athleten sind die wichtigsten Aufgaben des IOC. Ein Athlet gilt so lange als sauber, so lange er nicht des Dopings überführt ist. Diesen Prinzipien ist das IOC bei der Entscheidung gefolgt. Dennoch ist sie für mich nicht ausreichend. Vom IOC müssen angesichts der größten Krise der olympischen Bewegung noch sehr viel umfassendere Entscheidungen gefordert werden.

Die russische Seite ist zufrieden – und das, obwohl systematisch betrogen wurde. Ihre Einschätzung?

DIGEL: In Russland wird das System staatlicher Manipulation weitestgehend so fortgeführt, wie es in der Sowjetunion über Jahrzehnte üblich war. Das wurde nun durch Fakten belegt. Präsident Putin hat mit seinem Sportminister Mutko bis heute keinen glaubwürdigen Anti-Doping-Kampf geführt. Sie sind vielmehr verantwortlich für ein kriminelles Manipulationssystem. In der sogenannten Olympischen Familie oder in den Gremien der Fifa haben sie nichts verloren.

Auch Thomas Bach und seine Exekutive werden jetzt von Doping-Experten und anderen Beobachtern sehr heftig kritisiert. Zu Recht?

DIGEL: Die in allen deutschen Medien übliche Kritik an Präsident Bach ist in vieler Hinsicht inakzeptabel. Ihn stereotyp als Putin-Freund zu diskreditieren, ist lächerlich. Herr Bach verkehrt mit den Präsidenten Obama, Hollande und Xi in vergleichbarer Weise wie mit Putin oder Frau Merkel. Das ist seine Aufgabe, und dafür wurde er gewählt. Im Übrigen ist seine Agenda 2020 durchaus wegweisend.

Aber nun darf ausgerechnet „Whistleblowerin“ Julia Stepanowa nicht starten. Dabei hat die 800-Meter-Läuferin erst Licht ins russische Doping-Dunkel gebracht und wird nun mit am härtesten bestraft. Was halten Sie davon?

DIGEL: Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Frau Stepanowa hat ihre Leistung in der Vergangenheit, wie sie es selbst bekannt hat, mit medikamentöser Unterstützung erreicht. In Amsterdam vor drei Wochen bei der EM war ihre Leistung nicht ausreichend. Diese Leistung konnte nicht als Qualifikation für Rio bewertet werden. Unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung ist die Entscheidung des IOC nachzuvollziehen. In Anerkennung ihrer Kronzeugenfunktion hätte eine Teilnahme jedoch eine besondere Symbolfunktion.

Wie sehen Sie das Thema Unschuldsvermutung? Kann ein negativer Test im Ausland, wie jetzt gefordert, überhaupt für die Unschuld eines russischen Athleten sprechen?

DIGEL: Ein negativer Auslandstest kann bei einem russischen Athleten genauso für dessen Unschuld sprechen wie bei Athleten aller übrigen Nationen. Das Prinzip der Unschuldsvermutung muss für russische Athleten in gleicherweise gelten wie für deutsche oder englische Athleten. Warum soll ein russischer Volleyballer oder ein russischer Kunstturner, die niemals positiv getestet wurden, nur deshalb in Rio nicht starten dürfen, weil ihre Funktionäre und die verantwortlichen Politiker korrupt und kriminell sind? Meines Erachtens sollten gerade wir Deutschen mit einer Forderung nach einer Kollektivschuld etwas vorsichtiger sein. In unserer Gesellschaftsordnung besitzt das einzelne Individuum zu Recht einen besonderen Schutz.

Alle, außer den Leichtathleten, haben jetzt eine letzte Chance. Denn der Weltverband IAAF hatte schon vor dem IOC Fakten geschaffen. Ist das so denn wirklich gerecht?

DIGEL: Gerade bei den russischen Leichtathleten ist die Lage anders als bei den anderen russischen Sportlern. In der Leichtathletik liegen eindeutige Beweise vor. Die Rolle der Trainer ist dabei ebenso belegt wie die der Funktionäre. Von einer Entscheidung des IOC, die voll und ganz dem Gerechtigkeitsprinzip entspricht, kann dennoch nicht gesprochen werden. Deshalb müssen vom IOC auch noch sehr viel weitreichendere Forderungen erfüllt werden.

Welche?

DIGEL: Die Einnahmen des IOC in Milliardenhöhe aus dem Verkauf der TV-Rechte und dem Erlös aus den Marketingrechten wurden bislang beispielsweise nahezu kriterienlos an die olympischen Fachverbände und auch an die NOKs ausgeschüttet. Diese Einnahmen sollten einmalig für den Zeitraum einer Olympiade in einen Anti-Doping-Fonds investiert werden. Zukünftig sollten die IOC-Mitgliedsverbände nur dann ihre Zahlungen erhalten, wenn sie die Bedingungen der Wada voll und ganz erfüllen.

Diskus-Star Harting schämt sich für Bach

Massive Kritik Diskus-Olympiasieger Robert Harting hat massive Kritik an IOC-Präsident Thomas Bach geäußert. „Er ist für mich Teil des Doping-Systems, nicht des Anti-Doping-Systems. Ich schäme mich für ihn“, sagte der Berliner gestern im Bundesleistungszentrum Kienbaum über den deutschen Spitzenfunktionär. Das Internationale Olympische Komitee IOC hatte das russische Team trotz nachgewiesenen Staatsdopings nicht komplett von Olympia ausgeschlossen. „Ich habe oft meine Enttäuschung über Bach geäußert. Aber das ist jetzt eine neue Enttäuschungs-Dimension“, sagte der 31-jährige Harting.

Kritischer Geist Der Tübinger Sportwissenschaftler und -soziologe Professor Helmut Digel war von 1993 bis 2001 Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), der ehemalige Vizepräsident des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF gehörte außerdem von 2007 bis 2015 dem IAAF-Council an.

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Erstellt:
27.07.2016, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 23sec
zuletzt aktualisiert: 27.07.2016, 06:00 Uhr

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