Verschollene Autoren, wiederentdeckt

Gutenachtgeschichten von Inge Jens und Marcus Hammerschmitt

Jugenderinnerungen ans Tübingen des späten 19. Jahrhunderts, sprachverliebte Kurzprosa über bedrohte Brotarten: Die Besucher der Gutenachtgeschichte hörten am Donnerstagabend vor der Burse sehr unterschiedliche Geschichten – in lauschiger Atmosphäre.

30.07.2016

Von Fabian Renz

Volle Stuhlreihen an einem lauschigen Ort: Marcus Hammerschmitt las aus Hans Peter Hoffmanns „Die Truhenorgel“. Bild: Sommer

Volle Stuhlreihen an einem lauschigen Ort: Marcus Hammerschmitt las aus Hans Peter Hoffmanns „Die Truhenorgel“. Bild: Sommer

Tübingen. Zwei Stunden vor dem geplanten Beginn hatte es derart geschüttet, dass Hermann-Arndt Riethmüller von der Buchhandlung Osiander die Entscheidung als „mutig“ bezeichnete, die Gutenachtgeschichten um 19 Uhr am lauschigen Plätzchen vor der Burse verlesen zu lassen – und nicht in der Buchhandlung in der Wilhelmstraße. Und Ulrich Janßen, stellvertretender Chefredakteur des SCHWÄBISCHEN TAGBLATTs, das gemeinsam mit Osiander den alljährlichen Vorlesereigen veranstaltet, verwies auf die Möglichkeit, bei Regen immer noch in die Burse ausweichen zu können. Doch das Wetter hielt.

Und die beiden Vorleser des Abends hielten ihr Versprechen, den rund 250 Zuhörern verschollene oder vergessene Tübinger Autoren ins Gedächtnis zu rufen.

In der „guten, alten Zeit“ war nicht alles gut

Den Anfang machte Inge Jens. Die 89-jährige Literaturwissenschaftlerin, Schriftstellerin und Frau des vor drei Jahren verstorbenen Rhetorikers Walter Jens las aus den Tübinger Jugenderinnerungen von Isolde Kurz. Die 1944 verstorbene Schriftstellerin war nur einer Minderheit der Zuhörer bekannt, wie eine Frage von Hermann-Arndt Riethmüller ans Licht brachte. Genau darum habe sie sich diese Autorin ausgesucht, verriet Jens. Und fügte mir ihrer ruhigen, klaren Stimme hinzu: „Auch wenn ich sie als Schriftstellerin nicht unbedingt schätze, ihre Jugenderinnerungen sagen mir zu.“

Einige dieser Erinnerungen – das (vergriffene) Buch von 1918 hat den Titel „Aus meinem Jugendland“ – spielen sich in Tübingen ab. Hier liegt Isolde Kurz auch begraben, auf dem Stadtfriedhof.

Vieles, was Isolde Kurz für das Tübingen des ausgehenden 19. Jahrhunderts beschreibt und was den Zuhörern an der Burse nun zu Ohren kam, gilt auch heute noch: Die „hohe und steile Giebelreihe der Neckarfront“ spiegelt sich noch immer „in dem still ziehenden Fluss“, die Stiftskirche steht auf ihrem Vorsprung nach wie vor „trotzig wie ein gewappneter Erzengel im Stadtinnern“. Und auch wenn die „Coleurstudenten“ nicht mehr, wie damals, das Straßenbild beherrschen, so trinkfest, wie Isolde Kurz das beschreibt („die Zahl der Schoppen, die für eine Fuchsentaufe nötig sein sollte, wage ich nicht zu nennen“), sind viele Mitglieder von Verbindungen wohl auch heute.

Einiges war damals aber auch ganz anders. Für große Erheiterung sorgte die Stelle, an der Isolde Kurz von ihren Bemühungen berichtet, das städtische Schwimmbad, das ausschließlich Männern vorbehalten war, zumindest an einem Tag der Woche für eine Stunde für das weibliche Geschlecht zugänglich zu machen. Die Antwort von Senat und Öffentlichkeit war deutlich: „Wie, man wollte die Phantasie der männlichen Jugend beim Baden durch die Vorstellung vergiften, dass in diesem selben Wasserbecken sich kurz zuvor junge Mädchenleiber getummelt hatten?“

Es sei ja oft von der „guten, alten Zeit“ die Rede, sagte Riethmüller, als Inge Jens sich unter großem Applaus von ihrem Lesesessel erhoben hatte, diese Anekdote zeige aber, dass eben nicht alles nur gut gewesen sei. „Ich finde, wir leben in der besseren Zeit“, befand Riethmüller.

Nach einer Pause mit Weißweinschorle und der Musik von Mojo & Sons machten es sich die Zuhörer wieder unter den Platanen gemütlich, um dem zweiten Vorleser des Abends zu lauschen. Ulrich Janßen stellte Marcus Hammerschmitt als einen Schriftsteller vor, der „aus Überzeugung Fiktives schreibt“ – ganz im Gegensatz zu Inge Jens, die aus Überzeugung nichts Fiktives schreibe. Hammerschmitt hat sich vor allem als Science-Fiction-Autor einen Namen gemacht und stellte direkt mal den Unterschied zwischen Science-Fiction und Fantasy klar: „Das eine ist das mit den Raumschiffen und Laserschwertern, das andere das mit den Zauberern und Drachen.“

Doch auch Hammerschmitt durfte – eiserne Regel der Gutenachtgeschichte – nichts aus seinem eigenen Werk vortragen. „Da habe ich mir eben einen Autor ausgesucht, dessen Texte meinen ähnlich sind“, sagte der 49-Jährige zur Freude des Publikums. Ja, beide seien „sprachverliebt“, sagte Janßen, bevor er mit den Worten übergab: „Er wird Ihnen einiges zumuten.“

Ja, Hammerschmitt mutete dem Publikum tatsächlich einiges zu. Er las aus dem 2006 erschienenen Buch „Die Truhenorgel“ von Hans Peter Hoffmann. Hoffmann sei, ähnlich wie Isolde Kurz, ein „verschollener Autor“, auch wenn er noch lebe. „Ich habe gestern erst mit ihm gemailt“, berichtete Hammerschmitt. Aber: „Er schreibt überhaupt keine Belletristik mehr.“ Hoffmann hat in Tübingen studiert, promoviert und sich habilitiert, nun arbeitet er als Professor für Sinologie in Mainz. Er übersetzt, publiziert Wissenschaftliches – aber schreibt eben überhaupt nichts Belletristisches mehr.

Ein leidenschaftlicher Flug durch Prosafetzen

Warum Hammerschmitt das so schade findet, machte die nächste halbe Stunde deutlich. Da flog der Vorleser leidenschaftlich durch Prosafetzen, von denen jeder einzelne längerer Gedankengänge wert wäre. Da wurde über die Etablierung des schwachen Verbs „flundern“ sinniert, „gespiegelten Schnittmengen“ der Wörter Sp-ani-en und Ch-ina nachgegangen oder ein „Verein für bedrohte Brotarten“ proklamiert. Wie Janßen angekündigt hatte: sprachverliebt eben.

Manch einem Zuhörer war das vielleicht zu viel, das Nachlesen fällt hier jedoch leicht: Während es die Jugenderinnerungen von Isolde Kurz nur noch auszugsweise in dem Band „Erzählungen und Erinnerungen“ zu kaufen gibt, kann man „Die Truhenorgel“ ganz normal im Buchhandel erwerben.

Aber ganz abgesehen davon: Die Atmosphäre vor der Burse allein war den Besuch schon wert, fanden die Gäste. Ein Glück, dass das Wetter gehalten hatte.

Info: Die nächste Station der Gutenachtgeschichte ist Bühl. Am Montag, 1. August, wird ab 19 Uhr im Schlossgarten vorgelesen.

Zum Artikel

Erstellt:
30.07.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 42sec
zuletzt aktualisiert: 30.07.2016, 01:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter Prost Mahlzeit
Sie interessieren sich für gutes und gesundes Essen und Trinken in den Regionen Neckar-Alb und Nordschwarzwald? Sie wollen immer über regionale Gastronomie und lokale Produzenten informiert sein? Dann bestellen Sie unseren Newsletter Prost Mahlzeit!