Leitartikel zu 30 Jahre Erasmus-Programm

Ruch des Elitenprojekts

Der Philosoph Michel de Montaigne hat's gemacht, der Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy auch, und der Dichter Johann Wolfgang von Goethe sowieso: Sogenannte Cavaliersreisen waren in Europa lange obligatorischer Teil der Bildung junger Männer aus Adel und gehobenem Bürgertum.

16.06.2017

Von Michael Puddig

Berlin. Einmal in die Welt entlassen, sollten die Reisenden Weltläufigkeit lernen, sich kulturell bilden und – dieses Ziel wurde meist eher verschwiegen – auch erotische Erfahrungen sammeln. Vor genau 30 Jahren hat die Europäische Union diese Idee aufgegriffen und erweitert: Die Reisenden – zunächst nur Studenten – sollten nun auch weltoffener zurückkehren und idealerweise als glühende Europäer.

So banal die Idee klingt, sie funktioniert. Ungefähr neun Millionen junge Menschen sind seit 1987 mit dem Erasmus-Programm über den Kontinent gereist. Sie haben ungezählte internationale Freundschaften geschlossen, eine neue Sprache gelernt, Vorurteile verloren und Erfahrungen gewonnen. Waren es in den Anfangsjahren noch Pioniere, die sich an Universitäten im Ausland einschrieben, ist das Erasmus-Semester heute Teil der Lebensläufe vieler Hochschulabsolventen. Ja, und mehr noch: Einer Studie der EU-Kommission zufolge funktioniert Erasmus auch auf privater Ebene. Seit 1987 sollen schon mehr als eine Million Erasmus-Babys geboren worden sein. Aber nicht nur deswegen gilt das Programm als erfolgreichstes der EU.

Genau diese EU steckt jedoch bis zum Hals in Problemen: Seit Jahren brodelt die Euro-Krise, zuletzt sind Skepsis und Vertrauensschwund dazugekommen. Sicher, in Frankreich hat der Europa-Enthusiast Emmanuel Macron gerade die Wahlen kolossal gewonnen. Wer sich aber an diesen Strohhalm klammert, der blendet einfach aus, dass die Europäische Union in anderen Mitgliedsländern äußerst misstrauisch beäugt und als abgehobenes Eliten-Projekt diffamiert wird. Und genau da muss Erasmus ran.

Denn selbst wenn das Programm schon vor vier Jahren um ein Plus erweitert wurde, heute also „Erasmus +“ heißt und sich längst nicht mehr nur an Akademiker richtet: Allzu oft werden die Projekte, die sich ausdrücklich auch an Nichtakademiker richten, nur von Gymnasiasten und Studierenden wahrgenommen. Das hat zwei Gründe: Einerseits ist es ungeheuer kompliziert, mit der EU für ein paar Monate ins Ausland zu gehen. Wer es schafft, sich einen Platz etwa als Freiwilligendienstleistender zu organisieren, der hat die schwierigste Hürde genommen. Ein möglicher Kulturschock oder Probleme mit der fremden Sprache sind ein Klacks dagegen. Das muss dringend vereinfacht werden.

Zugleich muss das Programm aber auch bekannter gemacht werden. Kaum jemand weiß, dass unter „Erasmus +“ auch Angebote für Schüler, Auszubildende und Berufstätige zu finden sind. Solange das so bleibt, wird der EU-unterstützte Auslandsaufenthalt eine moderne Form der früheren Cavaliersreise bleiben – und die EU den Ruch des Elitenprojektes nicht los.

leitartikel@swp.de

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Erstellt:
16.06.2017, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 14sec
zuletzt aktualisiert: 16.06.2017, 06:00 Uhr

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