FC Bayern

Rekordmeister vor radikalem Schnitt

Ancelotti gefeuert, fünf Punkte Abstand zur Tabellenspitze – nur durch einen konsequenten Umbruch kommen die Münchner aus der Krise.

04.10.2017

Von ALEXANDER KERN

Julian Nagelsmann wäre der jüngste Bayern-Coach der Klubgeschichte. Der 30-Jährige wurde für seine Flirts mit dem Rekordmeister zuletzt scharf kritisiert. Foto: dpa

Julian Nagelsmann wäre der jüngste Bayern-Coach der Klubgeschichte. Der 30-Jährige wurde für seine Flirts mit dem Rekordmeister zuletzt scharf kritisiert. Foto: dpa

Willy Sagnols leerer Blick sagt mehr als 1000 Worte. Viel mehr sogar. Während der Interimscoach des FC Bayern München das enttäuschende 2:2 seiner Mannschaft bei Hertha BSC analysiert, steht ihm die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben. Die vergangenen Wochen waren hart: Schlechte Resultate, aufmüpfige Stars und erzürnte Klubbosse, die seinen Vorgesetzten Carlo Ancelotti vor die Tür gesetzt hatten. Kurz vor Ende der Pressekonferenz folgt er doch noch, der große Knall des sonst so reservierten Franzosen: „Wir sind nicht mehr die stärkste Mannschaft in Deutschland.“ Worte, bei denen es den Bayern-Fans kalt den Rücken herunterläuft, wenn sie sich das tausendfach geteilte Sagnol-Video in den sozialen Netzwerken ansehen. Die einstigen Super-Bayern haben einen Tiefpunkt erreicht. Wie konnte es so weit kommen?

Fehler der Führungsriege

Zeitsprung. Zurück ins Jahr 2013. Das Jahr, in dem der Rekordmeister das Triple holte und auf Jupp Heynckes den weltbesten Coach Pep Guardiola folgen ließ – mit dem Ziel, Europas Nummer eins zu bleiben. Dem Katalanen ist in seiner Ära an der Säbener Straße sportlich nicht viel vorzuwerfen. Drei Meisterschaften und zwei DFB-Pokalsiege in drei Jahren sprechen für sich. Vielmehr war es die Klubführung, die sich während dieser Zeit den Entwicklungen des Fußballgeschäfts verweigerte. Finanziell machbare Königstransfers kategorisch ablehnte. Es nicht schaffte, einen Umbruch im Kader einzuleiten. Die Champions League gewannen deshalb andere. Investierfreudigere Klubs. 2014 Real Madrid, 2015 der FC Barcelona. 2016 wieder die Madrilenen. Ihr überragender Mann im Mittelfeld: Toni Kroos. Sein Abgang ist einer der größten Transfer-Fehler in der Geschichte des FC Bayern. Den besten Spieler der WM 2014 wenige Tage nach dem deutschen Triumph ziehen zu lassen, zeugt von Blauäugigkeit. Sicher: Die Bundesligasaison 2013/14 des Mittelfeldakteurs war durchwachsen. Doch sein Potenzial blitzte auch in schwachen Phasen auf. Er wollte verlängern, ein Gehalt in den Sphären von Manuel Neuer oder Thomas Müller wurde ihm jedoch verwehrt.

Großes Missverständnis

Kroos hätte bei den Bayern der Anführer eines Umbruchs sein können. Ein Umbruch, der vor allem auf den Flügeln nötig gewesen wäre. Das erkannte auch Guardiola zum Ende seiner Zeit in München. Er schlug mehrmals Hochkaräter wie Kevin De Bruyne vor. Doch 74 Millionen Euro waren seinen Vorgesetzten zu viel. Der Scheich-Klub Manchester City erhielt den Zuschlag. 2016 zog Guardiola nach, bei den Citizens hat die Koryphäe mehr Freiheiten.

Auf die Ära Guardiola folgte beim FC Bayern 2016 das 15-monatige Missverständnis mit Carlo Ancelotti. Der 58-Jährige wurde einst aus nachvollziehbaren Motiven verpflichtet: Er galt als pragmatischer Trainer, der zweimal die Champions League gewonnen hatte. Als einer, der Guardiolas Vermächtnis konservieren konnte; der die große Schwäche des Katalanen zu seinen Stärken zählte: den Umgang mit Stars. Doch gerade daran scheiterte Ancelotti. Er, der doch eigentlich alle Spielerkabinen der Welt im Griff hatte, verlor die Bayern-Kabine auf spektakuläre Art. Die Top-Stars Franck Ribéry, Thomas Müller, Mats Hummels, Arjen Robben und Robert Lewandowski stellten sich gegen ihn. Auch, weil gerade in Ancelottis zweiter Bayern-Saison keine taktische Idee erkennbar war. Vielmehr bayerischer Stotterfußball, klaffende Lücken zwischen Mittelfeld und Angriff, ein stets ausrechenbares 4-3-3-System. Die Spieler verloren das Vertrauen – die Basis jeder Zusammenarbeit. Die folgerichtige Trennung kam nach dem 0:3-Debakel in Paris.

Neuanfang mit Tuchel?

Die gesamte Schuld in Ancelottis Schuhe zu schieben, wäre viel zu einfach. Was schon zu Guardiolas Zeit nötig gewesen wäre, müssen die Männer der Chefetage, allen voran Präsident Uli Hoeneß und der Vorstandsvorsitzende Karl-Heinz Rummenigge, nun intensiver denn je tun: ihre Entscheidungen hinterfragen und analysieren. Auch Sportdirektor Hasan Salihamidzic muss dabei klare Kante zeigen. Gemeinsam haben sie den aktuellen Kader zu verantworten. Status quo ist eine mit Ribéry (34) und Robben (33) überalterte Flügelzange. Die Leistungen des 21-Millionen-Euro-Schnäppchens Kingsley Coman haben gezeigt, dass der 21-Jährige noch nicht bereit ist, um in die Fußstapfen des Duos zu treten. Zudem kann sich der FC Bayern nicht nur auf seine Lebensversicherung im Mittelsturm verlassen: Es fehlt Ersatz für Lewandowski.

Statt auf dem Platz gibt es beim FC Bayern in den kommenden Monaten wohl zunächst ein neues Gesicht auf der Trainerbank. Die naheliegendste Option ist Thomas Tuchel. Der 44-Jährige ist im Vergleich zu den Mitkandidaten Julian Nagelsmann (TSG 1899 Hoffenheim) und Jürgen Klopp (FC Liverpool) sofort verfügbar. Es spricht aber natürlich noch viel mehr für Tuchel: Er ist ein detailversessener Arbeiter und ein Taktikfuchs – das hat er als Coach von Borussia Dortmund bewiesen. Seine aufbrausende Art aus dieser Zeit sollte er inzwischen reflektiert haben. Er weiß, dass er damit in München auf Granit stieße. Tuchel verfolgt darüber hinaus einen ähnlichen Ansatz wie Guardiola. Er könnte das verloren geglaubte Erbe seines Vorbildes retten – und mit neuen Akteuren den Umbruch einleiten. Als Neuverpflichtungen für die Außenbahn wären Alexis Sanchez (FC Arsenal) und Christian Pulisic (Borussia Dortmund) denkbare Optionen.

Nachhaltige Weichenstellung

Die Analyse der vergangenen Bayern-Jahre zeigt: Es braucht jetzt eine nachhaltige Weichenstellung, in welche Richtung sich der Klub entwickeln soll. Das Ziel für die Zukunft kann nur sein, durch mutige Transfers und ein positives Vereinsklima, den von milliardenschweren Scheichs oder riskanten Investmentfonds beherrschten Konkurrenten wieder gefährlich zu werden. Doch das geht nur Schritt für Schritt. Zuerst müssen sich die Bayern die nationale Vorherrschaft zurückerobern. Mit einem akribisch arbeitenden Coach, der Hummels, Thiago, Kimmich und Co wieder zur Normalform führt, dürfte dieses Zwischenziel schon in den kommenden Monaten erreicht werden.

Der vereinslose Thomas Tuchel gilt als heißester Kandidat für den Trainerstuhl beim FC Bayern München. Er könnte Pep Guardiolas taktisches Erbe fortführen. Foto: dpa

Der vereinslose Thomas Tuchel gilt als heißester Kandidat für den Trainerstuhl beim FC Bayern München. Er könnte Pep Guardiolas taktisches Erbe fortführen. Foto: dpa

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Erstellt:
04.10.2017, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 51sec
zuletzt aktualisiert: 04.10.2017, 06:00 Uhr

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