Menschenrechte

Regime, die auch Täter sind

Beim 1. Tübinger Elisabeth-Käsemann-Symposium ging es um die internationale Strafverfolgung von Staatsverbrechen.

23.06.2017

Von Dorothee Hermann

Beim Käsemann-Symposium im Audimax: der Leitende Oberstaatsanwalt Jens Rommel (von links), Prof. Luis Efrén Ríos Vega (Mexiko), Moderatorin Christiane Schulz (Berlin), Prof. Daniel Rafecas (Argentinien) und Herta Däubler-Gmelin, vormals Bundesjustizministerin.Bild: Metz

Beim Käsemann-Symposium im Audimax: der Leitende Oberstaatsanwalt Jens Rommel (von links), Prof. Luis Efrén Ríos Vega (Mexiko), Moderatorin Christiane Schulz (Berlin), Prof. Daniel Rafecas (Argentinien) und Herta Däubler-Gmelin, vormals Bundesjustizministerin.Bild: Metz

Vor 40 Jahren wurde die Tübinger Sozialarbeiterin Elisabeth Käsemann in einem Folterlager der argentinischen Militärdiktatur umgebracht. Doch das 1. Tübinger Symposium in ihrem Namen sollte keine individuelle Gedenkveranstaltung werden. „Menschenrechtsverletzungen sind auch heute noch Mittel politischer Akteure“, sagte Käsemanns Nichte Dorothee Weitbrecht. Die Historikerin gründete vor drei Jahren die Elisabeth-Käsemann-Stiftung für Internationalen Dialog für Erinnerung und Frieden.

Gemeinsam mit der Juristischen Fakultät und der Juristischen Gesellschaft Tübingen lud die Stiftung am Mittwoch zum Symposium „Internationale Strafverfolgung staatlicher Verbrechen in Deutschland und Lateinamerika: 1933 – 1976 – heute.“ Zur Abschlussdiskussion kamen etwa 300 Zuhörer ins Audimax. Erst die Aufarbeitung von staatlichen Menschenrechtsverbrechen öffne den Weg zu einer globalisierten demokratischen Kultur, betonte Weitbrecht.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind nicht auf den Nationalsozialismus oder die argentinischen Militärdiktatur beschränkt, sagte der Tübinger Strafrechtler Prof. Jörg Eisele. 2014 verschwanden in Mexiko 43 Studierende. Der Fall ist noch nicht aufgeklärt. Anders als in den 1970er Jahren gibt es mittlerweile eine UN-Konvention, die das Verschwindenlassen von Menschen ächtet. Sie wurde von 96 Staaten unterzeichnet, darunter Argentinien und Deutschland. „Solche Rechtsnormen sind stets abhängig von ihrer staatlichen Durchsetzung“, sagte Eisele und ergänzte: „Es geht nicht nur um Rechtsfragen und Strafverfahren, sondern um menschliche Schicksale“ – wie das von Elisabeth Käsemann und mindestens 30 000 weiteren Opfern der argentinischen Militärdiktatur.

Die Repression in Argentinien baute sich ganz ähnlich auf wie in den Anfangsjahren des Nationalsozialismus, sagte der argentinische Jurist Prof. Daniel Rafecas, der das Ermittlungsverfahren gegen das 1. Heerescorps der früheren Militärjunta seines Landes leitet. „Es gab wilde Konzentrationslager, geheime Verhaftungen, gestapoähnliche Praktiken und Befehlsketten“, sagte Rafecas. Das 1. Heerescorps war für tausende von Menschenrechtsverletzungen und für zahlreiche geheime Haft- und Folterzentren verantwortlich. Was dort geschah, sei der breiten Öffentlichkeit in Argentinien lange gleichgültig gewesen, sagte der Jurist. Es waren die Opferverbände, die über Jahrzehnte beharrlich die juristische Aufarbeitung forderten.

Erst als die Staatsanwaltschaften anderer Länder (auch der Bundesrepublik) zu ermitteln begannen, weil eigene Staatsangehörige betroffen waren, sei „Druck auf Argentinien“ entstanden, sagte Rafecas. Inzwischen seien internationale Menschenrechtskonventionen Teil der argentinischen Verfassung.

Als der Oberste Gerichtshof Argentiniens im vergangenen Jahr auch Junta-Tätern Hafterleichterungen zubilligen wollte, erlebte das Land eine Überraschung: Es kam zu Massendemonstrationen in allen Städten. „Millionen von Menschen gingen auf die Straße. Die meisten waren sehr jung.“ Rafecas sieht diese Proteste als Frucht des Kampfes um Gerechtigkeit der vergangenen 40 Jahre.

Die frühere Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin begrüßte es, dass die Elisabeth-Käsemann-Stiftung und die Uni Tübingen solche Akzente gegen staatliche Menschenrechtsverbrechen setzen. Als sie in den sechziger Jahren anfing, in Tübingen Jura zu studieren, habe ein ganz anderer Geist geherrscht: „Es war fraglich, ob die Nürnberger Prozesse überhaupt Juristerei waren.“

Erst im vergangenen Jahr war der Leitende Oberstaatsanwalt Jens Rommel, Leiter der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, in Buenos Aires, um mit Hilfe der argentinischen Einwanderungsbehörde nach untergetauchten NS-Tätern zu suchen.

Aus Mexiko berichtete Prof. Luis Efrén Rios Vega, Generaldirektor der Interamerikanischen Menschenrechtsakademie, dass in seinem Land seit 2000 die Praxis des Verschwindenlassens grassiert. „Es gibt nicht nur staatliche Akteure, sondern auch das organisierte Verbrechen“, sagte Vega. In letzteren Fällen lehne der Staat sich einfach zurück: „Wir können nichts dafür.“ Vega verwies zudem auf die massenhaften Ermordungen von Frauen in Mexiko. „Der Staat ist nicht präsent. Der Staat gibt keine Sicherheit.“ Der Druck der Internationalen Gemeinschaft sei wichtig, damit der mexikanische Staat das Problem anerkenne.

„Menschenrechte sind unteilbar“, sagte Theresa Schopper. Die Staatssekretärin im Staatsministerium Baden-Württemberg hofft, dass das Symposium dazu beiträgt, die jüngere Generation aufmerksam zu machen. Schopper war ein junges Mädchen, wie sie sagte, als in Argentinien Menschen verschwanden. Sie erinnert sich, wie die „Mütter der Plaza de Mayo“ es als eine der ersten Menschenrechtsorganisationen wagten, öffentlich gegen die Militärjunta zu protestieren.

Das Symposium erinnere auf würdige Weise an Elisabeth Käsemann und ihren Einsatz in den Armenvierteln von Buenos Aires, den sie mit dem Leben bezahlt hat, sagte Tübingens Erste Bürgermeisterin Christine Arbogast. Außer Käsemann wurden nahezu 100 deutschstämmige Frauen und Männer umgebracht, ergänzte Weitbrecht. Unter ihnen war Nora Marx, Tochter von Ellen Marx, die vor den Nazis nach Argentinien geflüchtet war.

Christiane Schulz vom Deutschen Institut für Menschenrechte und vormalige Sprecherin der „Koalition gegen Straflosigkeit in Argentinien“ moderierte. Die lateinamerikanische Musikgruppe Grupo Sal umrahmte den Abend.

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Erstellt:
23.06.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 16sec
zuletzt aktualisiert: 23.06.2017, 01:00 Uhr

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