Kino und zur Berlinale

Realität als Horrorfilm

Wer einen Gruselfilm anschauen mag, muss dieser Tage einfach nur die Nachrichten einschalten.

18.02.2017

Von Magdi Aboul-Kheir

Berlin. Ein Gespenst geht um, und das nicht nur in Europa. Berlinale-Chef Dieter Kosslick kennt Scorsese und Schlöndorff, aber auch seinen Marx. Das Gespenst freilich, das Kosslick fürchtet, ist die um sich greifende Ratlosigkeit. Eine Ratlosigkeit als Folge des offensichtlichen Scheiterns der großen Utopien und der Entzauberung der globalisierten Welt. Dafür haben die Demagogen Zulauf, dafür regieren Herzlosigkeit, Hass und Gier. Die Bösewichter in der Politik sind derzeit furchteinflößender als es Kinoschurken je sein könnten.

Dieses Gespenst geht also um – und dann setzt man sich ins Kino und mampft Popcorn? Schaut sich vielleicht einen Geisterfilm an? Nein, es geht auch anders. Denn Kino vermag, wie alle Kunst, nicht nur Amüsement und Eskapismus zu bieten. Sondern es kann eine bildhafte Reflexion der Weltläufte geben. Oder eine erzählerische Diagnose gesellschaftspsychologischer Zustände.

In der durchmedialisierten Welt ist nichts wirkmächtiger als Bilder. Und Leinwand-Augenblicke, die sich geradezu auf der Netzhaut einbrennen, hat es auf dieser Berlinale viele gegeben. Brutale Episoden aus der Kolonialzeit, in der Wirtschaftskrise zerfallende Familien, Wut und Angst allüberall.

Dieter Kosslick hat recht: Selten hat ein Berlinale-Programm die aktuelle politische Situation so eindringlich in Bilder gefasst wie in diesem Jahr. Viele Drehbuchautoren und Regisseure versuchen, die alarmierende Gegenwart vor dem Hintergrund der Historie zu verstehen. Was gewiss kaum zur Beruhigung führt. Aber vielleicht Erklärungen liefert, neue Sichtweise schafft und vielleicht sogar Mut macht.

Filmemacher liefern durchaus hoffnungsvolle Ideen. Und der Zuschauer entdeckt, dass die Welt trotz allem Freude bereiten kann. Dass sie voller liebens- und lebenswerter Eigenarten ist, um uns in Staunen zu versetzen und zum Lachen zu bringen.

Es mag naiv klingen, aber vielleicht sind es ja die Geschichten von starken Individuen und die Ideen großer Künstler, die an die Stelle der Utopien treten. Andres Veiels Film-Biografie „Beuys“ etwa verblüffte mit ihrer Kraft und Aktualität. Ja, es können Künstler sein, die diese Gespenster bannen können: nicht nur die Ratlosigkeit, sondern auch radikalisierte politische und enthemmte ökonomische Kräfte. Nichts beflügelt Kreativität derart wie eine Krise.

Das alles ist nur Kino? Die Berlinale nur ein Festival? Auf diesem Festival sind wieder mehr als 300?000 Tickets verkauft worden. Und auf der Welt werden jedes Jahr 1,2 Milliarden Tickets gelöst. Es könnte also etwas bewirken, wenn beispielsweise die Bilderfabrik Hollywood – eher liberal, aber nicht immer mutig – tatsächlich dem Manipulator Trump und seinem Ungeist Geschichten, Bilder und Emotionen entgegensetzen wollte.

Und wenn man noch etwas aus dem Kino mitnehmen kann, dann ist es die Hoffnung auf ein Happy End.

leitartikel@swp.de

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Erstellt:
18.02.2017, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 19sec
zuletzt aktualisiert: 18.02.2017, 06:00 Uhr

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