Der Ball war nicht im Tor

Psychologen untersuchen Wahrnehmung und (Fehl-)Entscheidungen

Man sieht etwas, was gar nicht zu sehen ist: einfach weil es plausibel scheint. Dem Phänomen gingen Tübinger Psychologen am Beispiel Fußball nach.

27.09.2016

Von ST

Archivbild: Ulmer

Archivbild: Ulmer

Tübingen. Das Phantomtor von Hoffenheim im Bundesligaspiel von 1899 Hoffenheim gegen Bayer Leverkusen am 18. Oktober 2013: ein Schuss, ein fliegender Ball, ein Loch im Außennetz, ein Tor. Alle sahen das Tor der Leverkusener, so entschied auch der Schiedsrichter – was für die Hoffenheimer eine Niederlage bedeutete. Tatsächlich hatte der Ball jedoch die Torlinie nie überschritten.

Das Gehirn

errät und ergänzt

Ganz klar: Fehler des Schiedsrichters. Oder? Prof. Markus Huff aus dem Arbeitsbereich Allgemeine Psychologie der Universität Tübingen argumentierte theoretisch, dass dem Schiedsrichter die Fehlentscheidung nicht anzulasten sei, denn der menschlichen Wahrnehmung entgingen viele Informationen, die das Gehirn errate und ergänze – zuweilen in fehlerhafter Weise.

Nun hat Markus Huff mit seinen Mitarbeitern Alisa Brockhoff und Frank Papenmeier diese Erklärungen in Zusammenarbeit mit Prof. Oliver Höner vom Institut für Sportwissenschaft und mit Unterstützung des Schweizer Fernsehens in einer empirischen Studie überprüft – mit dem gleichen Ergebnis: Expertise schützt den Schiedsrichter nicht vor falschen Wahrnehmungen. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift „Cognitive Research: Principles and Implications“ veröffentlicht.

In einem Experiment testeten die beteiligten Wissenschaftler die Wahrnehmungen von Schiedsrichtern des Weltfußballverbands (FIFA), von Fußball-Landesligisten und Studenten beim Betrachten von Videoclips, die typische Ereignisse im Fußball zeigten: Eckstoß, Freistoß und Abschlag. Die Wissenschaftler veränderten die Vorgänge teilweise und schnitten zum Beispiel die tatsächliche Ballberührung heraus. Nach den Videoclips wurden den Studienteilnehmern Bilder gezeigt, bei denen sie jeweils entscheiden sollten, ob sie so in dem Clip zu sehen waren.

In den unvollständigen Clips – herausgeschnittene Ballberührung – sahen die Studienteilnehmer entweder ein kausales Ereignis wie einen fliegenden Ball oder ein nicht kausales Ereignis wie zum Beispiel einen verletzten Spieler am Boden. Bei der nicht kausalen Bilderfolge markierten die Probanden das Bild von der Ballberührung nur selten als ‚gesehen‘. Wurden jedoch kausale Bilder hineingeschnitten, waren sie sich genauso sicher wie bei einem vollständigen Clip, die Ballberührung gesehen zu haben, berichtet Markus Huff. „Die Plausibilität der Ereignisse ist entscheidend beim sogenannten Event Completion-Effekt.“ Das menschliche Gehirn habe, basierend auf den kausalen Informationen, jeweils die Abläufe ergänzt. Der Effekt sei in allen drei Gruppen von Studienteilnehmern zu beobachten gewesen.

Expertise schützt

nicht vor Fehlern

„Die zweifelsohne sehr große Expertise der Schiedsrichter hilft ihnen also nicht unbedingt, kritische Ereignisse korrekt wahrzunehmen“, fasst der Wissenschaftler das Ergebnis zusammen und setzt hinzu: „Unsere Wahrnehmung ist vor allem bei der Verarbeitung dynamischer Szenen, wie einem Fußballspiel, sehr gefordert. Diese Aufnahmekapazität ist bei allen Menschen ähnlich.“

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Erstellt:
27.09.2016, 17:12 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 17sec
zuletzt aktualisiert: 27.09.2016, 17:12 Uhr

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