Die Kolumne

Muss-Vorschrift und Müßiggang

Pst! Nicht weitersagen! Heute um Mitternacht will ich mich unangekündigt auf die Bühne vor die enthusiasmierte Menge des U&D-Festivals in Mössingen schleichen, mich hinterm Mikrophon in Stellung bringen und, wie ein Rapper, die schönsten Naturgedichte von Oberjustizrat Karl Mayer (1786-1870) rezitieren.

30.07.2016

Von Jürgen Jonas

Noch bin ich mit der Textauswahl beschäftigt. Mayer, Mitglied der schwäbischen Dichterschule, war ein sehr eifriger Schreiber und verfasste schätzungsweise 36 000 Gedichte – die fast alle von Waldlichtungen, Wiesenauen, flatternden Schmetterlingen und summenden Käfern handeln. So gedenke ich, junge Menschen nach dem Bassgestampf für romantische Poesie zu begeistern.

Viel ist jetzt auf Gemeindeverwaltungsverbandsebene von „Beteiligung der Jugend“ die Rede. Ich habe eigenäugig eine Verlautbarung mit ungeheurem Aha-Effekt gelesen: „Durch das aktive Mitreden und Mitgestalten der Jugendlichen bezüglich der Gestaltung ihres Lebensumfelds soll das Verständnis für Demokratie schon in jungen Jahren geschaffen und anschließend gestärkt werden.“ Das haben ältere Herrschaften aus dem gehobenen Verwaltungsdienst sich abgerungen. Ist man nicht schon weggeschlafen, ehe man den Satz ausgelesen hat? In meiner Jugend jedenfalls war es üblich, sich mit solchem Schnarchsatz-Sermon seine Selbstgedrehte anzuzünden.

Die Sätze beruhen auf der Änderung von § 41 Gemeindeordnung, die vorsieht, dass Jugendliche künftig bei Planungen und Vorhaben, die ihre „Interessen berühren“, in „angemessener Weise“ beteiligt werden „müssen“. Bisher „konnten“ sie beteiligt werden. Die Verwaltung muss nun Jugendliche heranschaffen, die sich der Beteiligung hingeben dürfen.

Doch heißt es nicht in der Fernsehwerbung: „Weniger müssen müssen“? Hoffentlich finden sich viele Jugendliche zusammen, die sich dem Vorschriftszwang entziehen und doch auf ihre Art politisch aktiv werden.

Die meisten jungen Leute haben jetzt Ferien, lesen vielleicht „Die Kunst des Müßiggangs“ von Hermann Hesse. Oder, besser noch, die „Anleitung zum Müßiggang“ des Briten Tom Hodgkinson, der meint: „Müßiggang ist löblich.“ Hodgkinson will die Faulheit feiern und die „westliche Arbeitsmoral“ attackieren, die „so viele von uns noch immer versklavt, demoralisiert und deprimiert.“ Müßiggang bedeute Freiheit – womit er „nicht die Freiheit, zwischen McDonalds und Burger King, zwischen Volvo und Saab zu wählen“ meint. Sondern die, „das Leben so zu führen, wie wir es wollen, frei von Vorgesetzten, Wochenlöhnen, Berufsverkehr, Konsum und Schulden“.

Mein Großvater Hermes sagte manchmal, bevor er im Ohrensessel einschlief: „Jungchen, warum sind die Götter Götter, als weil sie mit Bewusstsein und Absicht nichts tun. Ihnen eifern alle Weisen nach.“ Genau. Wenn ich’s recht bedenken will, lasse ich den mitternächtlichen U&D-Auftritt mit den Herzensergießungen von Oberjustizrat Karl Mayer lieber sausen. Muss nicht sein.

Der Feuilletonist Alfred Polgar hat schon in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts durch intensive Beobachtung erkannt: „Die Berliner sind alle intensiv mit ihrer Beschäftigung beschäftigt.“ Sollen sie doch! Was tun wir im Steinlachtal? Morgen tu ich für meinen Teil jedenfalls mal gar nichts. Können Sie ruhig weitersagen.

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Erstellt:
30.07.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 18sec
zuletzt aktualisiert: 30.07.2016, 01:00 Uhr

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