Kernspaltung im Bierkeller

Museum in Haigerloch zeigt Anfänge der Nuklearforschung

Mit geheimem Auftrag kamen Wissenschaftler nach Haigerloch. In einem Felsenkeller brachten sie einen Atomreaktor zum Laufen.

01.07.2016

Von MADELEINE WEGNER

Der Physiker Egidius Fechter führt seit über 30 Jahren Besucher durch das Museum. Foto: Madeleine Wegner

Der Physiker Egidius Fechter führt seit über 30 Jahren Besucher durch das Museum. Foto: Madeleine Wegner

Haigerloch. Die Eyach schlängelt sich hier durch ein schmales Tal. Ein Teil des „Felsenstädtchens“ Haigerloch schmiegt sich unten an den Fuß der Felsen. Im Sommer 1943 schien es ein ideal geschützter Ort zu sein für geheime und nicht ganz ungefährliche Experimente: Wissenschaftler betrieben hier gegen Ende des Zweiten Weltkrieges im Versuchsstadium einen Kernreaktor.

Haigerloch (heutiger Zollernalbkreis) lag topografisch geschützt, ein gezielter Angriff war kaum möglich, weit im Westen gelegen war der Weg für die immer näher heranrückenden Russen weit. Eine eigene Brauerei gab es obendrein im Ort.

Um seine Bierfässer wohl temperiert zu lagern, hatte der damalige Wirt des Gasthaus Schwanen einen Keller in den Fels bauen lassen. Über der 100 Quadratmeter großen Höhle türmen sich 30 Meter Muschelkalkfelsen auf, obenauf thront die Schlosskirche.

In dem heutigen Atomkeller-Museum steht unter anderem eine originalgetreue Nachbildung des Experimentiertisches, durch den die Chemiker Otto Hahn und dessen Assistent Fritz Straßmann im Winter 1938/1939 die Kernspaltung entdeckten. Ebenfalls eine bedeutende Rolle spielte dabei die Physikerin Lise Meitner, die zusammen mit Hahn am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin gearbeitet hatte. Als Jüdin war sie jedoch im Sommer 1938 nach Schweden ins Exil geflohen und hielt Briefkontakt zu Hahn.

Das Nazi-Regime ließ die Erkenntnisse unter Geheimhaltung stellen. „Es war Grundlagenforschung zur Energiegewinnung“, sagt der Physiker und Pädagoge Egidius Fechter, der seit über 30 Jahren Besucher durch das Museum führt. „Von der Nazi-Regierung gab es nie einen Auftrag für eine Atombombe“, stellt er klar. Der Bau solch einer Bombe wäre zu unsicher, aufwändig und teuer gewesen, so Fechter, Industrieanlagen wären nötig gewesen. Solch ein Plan wäre demnach schon rein technisch nicht umsetzbar gewesen.

Die Forschungen zur Atomenergie dennoch liefen weiter. Ein Reaktor, mit dem die Wissenschaftler eine Kettenreaktion kontrolliert in Gang bringen sollten, war bereits in Berlin aufgebaut. Es war vermutlich Walther Gerlach, der Haigerloch als neuen Standort und zum Schutz vor den Luftangriffen vorschlug. Er war für das deutsche Uran-Projekt zuständig und kannte Haigerloch vermutlich noch aus seiner Tübinger Studienzeit.

Gerlach ließ ab Sommer 1943 den Reaktor aus Berlin und später auch das nötige Material durch ganz Deutschland nach Haigerloch transportieren. Erst im Februar 1945 begann der Neuaufbau des Reaktors im Felsenkeller.

„Sie dachten, sie seien die ersten und hätten so für die Friedensverhandlungen noch einen Trumpf im Ärmel“, sagt Fechter. Dass bereits 1942 im amerikanischen Chicago der erste Reaktor lief, wussten die Forscher nicht. Im März 1945 schickte Werner Heisenberg ein Telegramm nach Berlin: Eine Neutronenvermehrung um das Siebenfache sei erreicht worden, man stehe kurz vor einer sich selbst erhaltenden Kettenreaktion – dafür jedoch sei weiteres Material nötig. Material, das es kaum gab und vor allem nicht mehr transportiert werden konnte. Die Forschung wurde eingestellt.

In einer nächtlichen Aktion vergruben die Wissenschaftler das Uran auf dem Schlossfeld. Die amerikanische Spezialeinheit Alsos kam im April in Haigerloch an. Ihr Auftrag: Die Kernforscher ausfindig machen und herausfinden, wie weit die Deutschen mit der Entwicklung einer Atombombe waren.

Sie bargen das Uran aus dem Acker, außerdem hatten sie den Auftrag, den Keller samt Felsen und Schlosskirche zu sprengen. Der damalige Stadtpfarrer Gulde soll es gewesen sein, der US-Oberst Boris T. Pash davon abbringen konnte, lediglich eine symbolische Sprengung im Keller zu veranlassen. Der dadurch zerbeulte äußere Reaktor-Mantel ist heute im Museum zu sehen, ebenso wie originale Graphitblöcke. Der Reaktor selbst ist originalgetreu nachgebildet. Als früherer Kulturamtsleiter betreut Fechter nach wie vor das Museum, das jährlich rund 10?000 Besucher hat. Vor drei Jahren hatte der Physiker und Pädagoge das Museum umgestaltet und um zusätzliche Exponate erweitert. So erläutert das Atomkeller-Museum die Geschichte der Nuklearforschung und reicht dabei bis in ihre Anfänge zu Albert Einstein zurück. Er legte nicht nur theoretische Grundlagen für die Atomforschung auch in Haigerloch, sondern hatte zudem familiäre Verbindungen in das „Felsenstädtchen“.

Haigerloch Reste des Reaktorkessels. Foto: Madeleine Wegner

Haigerloch Reste des Reaktorkessels. Foto: Madeleine Wegner

Geschützt von vielen Metern Fels und der örtlichen Kirche: Der Haigerlocher Atomkeller. Foto: Madeleine Wegner

Geschützt von vielen Metern Fels und der örtlichen Kirche: Der Haigerlocher Atomkeller. Foto: Madeleine Wegner

Einstein in Haigerloch

Grundlage Albert Einstein legte mit der Formel E=mc2 im Jahr 1905 eine Grundlage für Kernenergienutzung. Er war der erste Leiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts, das später von Berlin nach Hechingen und Haigerloch verlegt wurde. Darüber hinaus hatte er persönliche Verbindungen in die Zollern-Städte: Seine Mutter Pauline Koch und die Mutter seiner zweiten Frau Elsa Fanny Koch (beides Schwestern) stammten aus Hechingen.?del

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Erstellt:
01.07.2016, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 12sec
zuletzt aktualisiert: 01.07.2016, 06:00 Uhr

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