Pendler

Mit der Zeit kennt man sich

Einige Dutzend Arbeitnehmer aus Rottenburg und Umgebung fahren jeden Morgen nach Stuttgart und zurück. Eine Reportage über den Weg zur Arbeit.

31.08.2017

Von Martin Zimmermann

Etwa ein Dutzend Leute steigen jeden Morgen in Kiebingen in den Zug um 7.46 Uhr nach Stuttgart. Ich bin einer davon. Es sind fast jeden Morgen die selben Gesichter. Der Schlaf steckt manchem von ihnen noch in den Augen. Man kennt sich und grüßt sich mit einem müden Kopfnicken. Der junge Mann mit dem karierten Hemd arbeitet in Reutlingen im Landratsamt, der angegraute Herr mit dem Hut in Stuttgart bei einer Versicherung. Eine grauhaarige Frau aus Weiler kommt jeden Morgen mit dem Auto, parkt in Kiebingen und steigt dort in den Zug. Sie arbeitet in der Klinikverwaltung.

Ein junger Deutschrusse wohnt in Rottenburg und studiert Bauingenieurwesen in Stuttgart. Er steht kurz vor seinem Bachelor-Abschluss. Zuhause wohnen und Pendeln ist für ihn billiger als Miete in Stuttgart zu zahlen, sagt er. Die Fahrzeit vertreibt er sich, indem er auf seinem Mobiltelefon mit Kopfhörern amerikanische Serien schaut. „Früher bin ich mit dem Auto nach Stuttgart gefahren und oft im Stau gestanden, aber mit dem Zug ist alles viel entspannter“, erzählt er.

Pendler mit befristeten Jobs

Viele der Menschen in den Pendlerzügen arbeiten für Gewerkschaften, Behörden, politische Parteien, Abgeordnetenbüros und Ministerien. Jobs in der Politik sind häufig auf wenige Jahre befristet und hängen von Wahlen ab. Wer bereits ein Haus gebaut hat, will wegen eines Jobs für ein paar Jahre nicht unbedingt umziehen und nimmt die Fahrzeit im Zug in Kauf. Die Beschäftigten von Behörden profitieren häufig von bezuschussten Jobtickets. Ich habe nicht dieses Glück. Mit meiner Bahncard 50 muss ich jeden Morgen eine Fahrkarte ziehen, denn der halbe Einzelfahrpreis ist günstiger als eine Monatskarte.

Pressesprecher packen im Zug ihre Tablets aus, auf denen sie die digitalen Ausgaben mehrerer Tageszeitungen empfangen. Sie erstellen morgens auf der Fahrt zur Arbeit ihre Pressespiegel. Der Vorteil des digitalen Zeitungsabos gegenüber der gedruckten, der Printzeitung besteht – für diese Berufsgruppe besonders – darin, dass man wichtige Artikel direkt verschicken kann. Andere beantworten im Zug e-Mails oder nehmen an Telefonkonferenzen teil. Der Nachteil dabei: Das ganze Abteil hört mit. Einige Leute scheint das nicht zu stören.

Den längsten Weg zur Arbeit hat ein Ingenieur aus Horb. Er arbeitet in China für WMF und betreut dort die Roboterfertigung von Küchenmessern. „Selbst die chinesischen Arbeitskräfte sind für uns mittlerweile zu teuer. Das wird künftig alles von Robotern erledigt“, erzählt er. Nach China pendelt er jedoch nicht täglich, sondern im Halbjahresrhythmus. Der Ingenieur ist angespannt, weil der Zug Verspätung und er Angst hat, sein Flugzeug zu verpassen.

„Personen im Gleis“ heißt es. „Personen im Gleis bedeutet, dass ein Zugführer etwas gesehen hat, was abgeklärt werden muss“, erklärt ein netter älterer Herr, der eine Weste der Bahnhofsmission trägt. „Personenschaden dauert dagegen mindestens drei Stunden, weil zuerst der Staatsanwalt kommen muss.“ Der Mann aus Reutlingen, der in der Stuttgarter Bahnhofsmission ehrenamtlich Sozialarbeit leistet, kennt sich aus. „Wir sitzen im Interregio-Express; der hat immer Vorfahrt vor dem Regional-Express. Wenn wir in Plochingen sind, schauen Sie auf die Uhr, rechnen Sie 18 Minuten drauf, und dann wissen Sie, ob Sie ihren Anschlusszug noch kriegen.“

Auch Jesus pendelt gelegentlich

Kurz vor Plochingen spricht mich ein junger Mann an. „Ich bin neulich hier in diesem Zug Jesus begegnet. Er saß mir plötzlich gegenüber auf den Sitz . . .“ Ich antworte ihm, dass mir der Gedanke von Jesus als Pendler zwischen Rottenburg und Stuttgart gefällt. Vielleicht flüstert er morgens dem Bischof und mittags dem Ministerpräsidenten etwas ein und zwischendurch passt er auf die normalen Pendler auf und darauf, dass niemand in den Zug läuft.

Der Schaffner kommt und fragt nach den Fahrkarten. Wer häufig pendelt, kennt die Leute, die auf dieser Strecke die Fahrgäste kontrollieren, und auch die Schaffner kennen einige ihrer Fahrgäste. Jeder der Kontrolleure und Kontrolleurinnen hat einen eigen Stil. Da gibt es eine sorgfältig frisierte Mittvierzigerin, die jeden Fahrgast mit einem freundlichen „Guten Morgen“ und „Dankeschön“ begrüßt und die Fahrscheine mit einer Ruhe und seriösen Gelassenheit abknipst, als würde sie in einer Apotheke Hustensaft verkaufen. Nur dass sie statt: „Dreimal täglich zwei Tropfen vor dem Essen einnehmen“ die Empfehlung gibt: „Ihr Anschlusszug wartet in Stuttgart am Gleis 32.“

Ein anderer Zugbegleiter ist eher der Typ Fließbandarbeiter. Er patrouilliert in gehetztem Tempo den Mittelgang hinunter, schaut kurz rechts und links nach den Fahrkarten, nickt und kommentiert in einem leicht schwäbischen Tonfall: „Passt. Passt. Bei Ihnen wieder Jobticket wie immer? Passt. Hier könnt’s auch passen . . .“ Man könnte auf die Idee kommen, dass der Mann pro Fahrgast bezahlt wird.

Auf dem abendlichen Rückweg sind viele Pendler müde und halten nach einem anstrengenden Arbeitstag ein Nickerchen. Glück hat, wer im Sommer in den überfüllten Zügen einen Sitzplatz im klimatisierten Teil des Zugs bekommt. Wer nicht rechtzeitig aus dem Büro kommt und den Zug nur noch knapp erhastet, der muss im nicht klimatisierten Fahrrad-Abteil Platz nehmen. Im Sommer ist das eine Tortur.

Musil und Finanzmathematik

Meistens bin ich rechtzeitig dran, aber zu müde für den „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil, den ich mir als gänzlich ungeeignete Zuglektüre vorgenommen habe. Meine Sitznachbarin, eine junge Frau mit langen blonden Haaren, fängt meinen Blick. Ist sie mir schon gestern gegenüber gesessen? Sie sagt, dass sie mich schon mehrere Tage in diesem Zug beobachtet. Sie hat einen Akzent, den ich zunächst nicht zuordnen kann. Sie komme aus Kiew und studiere Finanzmathematik, erklärt sie mir.

Am nächsten Tag sitzt sie wieder neben mir. Ich überlege, ob ich sie auf ein Bier einladen soll, aber ich bin müde und schäme mich ob meines durchgeschwitzten Sakkos. Morgen ist auch noch ein Tag. Er beginnt um 7.46 Uhr am Bahnsteig Kiebingen.

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Erstellt:
31.08.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 59sec
zuletzt aktualisiert: 31.08.2017, 01:00 Uhr

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