Doping

Mehr Biss für den „zahmen Tiger“

Ist der saubere Sport noch zu retten? Die Experten kennen den Königsweg: Ausschließlich die Kontrollagentur Wada soll über das Startrecht von Athleten entscheiden.

21.02.2017

Von KLAUS VESTEWIG

Prominenter Dopingsünder: Der kanadische Sprinter Ben Johnson wurde bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul positiv getestet. Die Goldmedaille aus dem 100-m-Lauf musste er zurückgeben. Foto: Imago

Prominenter Dopingsünder: Der kanadische Sprinter Ben Johnson wurde bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul positiv getestet. Die Goldmedaille aus dem 100-m-Lauf musste er zurückgeben. Foto: Imago

Stuttgart. Turn-Star Marcel Nguyen scheint die Situation so vertraut zu sein, dass er vor 280 Gästen in Stuttgart nicht einmal mehr das Gesicht verzog, als er gefragt wurde. „Ich halte unser Kontrollsystem Adams für sehr gut, auch wenn es nervig ist, sich ständig abzumelden. Aber es müsste halt überall so gemacht werden“, gab der 29 Jahre alte Bayer, zweimaliger Silbermedaillengewinner bei den Olympischen Spielen 2012 in London, zu bedenken. „Wenn ich das Teilnehmern aus anderen Ländern erzähle, lachen die uns aus. Die kriegen ihre Kontrolltermine vorher mitgeteilt, das kann doch nicht sein.“

Dass dopingfreie Athleten sich nicht genug geschützt fühlen vor den Betrügern, das machte auch 100-m-Hürdensprinterin Nadine Hildebrand beim 13. Stuttgarter Sportgespräch deutlich. „Für mich hat die Wada (Welt-Anti-Doping-Agentur) geschlafen. Nach der Dokumentation 2014 über staatlich praktiziertes Doping in Russland ist doch gar nichts passiert. Ich habe mir vom IOC mehr erwartet“, beklagte die 29-jährige Stuttgarterin.

Ist also der saubere Sport überhaupt noch zu retten? So lautete die Frage bei einem der inzwischen hochkarätigsten deutschen Sportforen der Rechtsanwaltskanzleien Wüterich/Breucker und Thumm. Bedarf es einer Reform der bestehenden Strukturen? Und: Wie könnte der Dopingkampf morgen aussehen? Nun, am Ende des Abends wurde doch noch ein Königsweg aus der Misere erörtert. Dazu später.

Der Status quo freilich ist mehr als ernüchternd. Noch ist der Donner nach dem zweiten Report des kanadischen Juristen Richard McLaren vom 9. Dezember nicht verhallt. Mehr als 1000 russische Athleten haben im Zeitraum 2011 bis 2015 gedopt. Schlimmer noch: Die systematischen Manipulationen wurden vom russischen Sportministerium gesteuert.

Für ARD-Doping-Experte Hajo Seppelt sind Vertuschungsszenarien nichts Neues. „Das IOC hat beim Doping 30 Jahre völlig versagt. Schon 1980 in Moskau gab es ein Stillhalteabkommen. Und das DDR-Staatsdoping war noch schlimmer als das russische Staatsdoping heute“, verdeutlichte der mehrfach mit Preisen ausgezeichnete Reporter, 2015 Deutscher Sportjournalist des Jahres. Seine Enthüllungen haben seit 1999 für heftige internationale Reaktionen gesorgt.

Kein Interesse an Aufklärung

Allerdings sind auch die meisten internationalen Fachverbände bei Dopingmissbrauch keinesfalls an wirklicher Aufklärung interessiert. Aus finanziellen Gründen. Von den Erfolgen des Geschäftsmodells eines Lance Armstrong oder eines Usain Bolt profitieren die Verbände ganz enorm. „Würde Bolt positiv getestet, würden große Gelder wegbrechen: Sponsoren und TV-Sender würden abspringen“, so betonte Seppelt. Ganz abgesehen von den politischen Verwerfungen für Jamaika.

Kann die Kollektivstrafe für ein Land die Lösung sein, obwohl sie dem deutschen Strafrecht (keine Strafe ohne individuelle Schuld) widerspricht? In Rio war das IOC davor zurückgeschreckt, alle russischen Athleten aufgrund des Mc-Laren-Reports auszuschließen, und hatte – anders als das Internationale Paralympische Komitee – stattdessen den internationalen Verbänden die Entscheidung über das Startrecht einzelner Sportler überlassen. „Die IOC-Entscheidung war der falsche Weg. Wegducken gibt es jetzt nicht mehr. Das Problem ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen“, sagte Lars Mortsiefer, seit 2011 im Vorstand der Nationalen Anti-Doping-Agentur (Nada), die im Jahr 15?000 Kontrollen in Deutschland durchführt. Seine Überzeugung: „Ich glaube, dass es wesentlich mehr saubere Sportler gibt als schwarze Schafe.“

Für Robert Bartko gilt nach wie vor die Unschuldsvermutung. „Das ist Rechtsstaatlichkeit, das müssen wir so akzeptieren“, versicherte der Doppel-Olympiasieger und vierfache Weltmeister im Bahnradfahren, heute Sportdirektor der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft. Für Bartko muss der Sport selber aktiv in die Offensive gehen, „um unser Produkt zu retten“. Einsatz mit Biss.

Wohin könnte der Weg gehen? Über einen hoffnungsvollen Ansatz waren sich die vier Diskussionsteilnehmer schließlich einig: die Entscheidung über das Startrecht von Athleten vollständig der Wada zu übertragen. Was allerdings bedeutet, dass IOC-Chef Thomas Bach bereit sein muss, deutlich Macht abzugeben.

Deutlich mehr Verantwortung für die Wada, darin sieht auch Thomas Weikert, seit 2014 Präsident des Internationalen Tischtennisverbands (ITTF), den Königsweg: „Wir sind uns einig, dass etwas geschehen muss. Ich finde die Idee gut, da müssen andere mitziehen. Als Verbandschef bin ich zu diesem Weg bereit.“ Hajo Seppelt ist noch skeptisch, ob das gelingen kann: „Die Wada ist alternativlos für den Weltsport. Bisher ist sie aber ein ,zahmer Tiger?. Das IOC wird den Teufel tun, aus der Hand zu geben, wer teilnimmt und wer nicht.“ Wer füttert schon gerne eine Raubkatze?

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Erstellt:
21.02.2017, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 10sec
zuletzt aktualisiert: 21.02.2017, 06:00 Uhr

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