Die vielen unbezahlten Stunden der Lehrbeauftragten

„Manche müssen Hartz IV beantragen, um an der Universität unterrichten zu können“

Eine Initiativgruppe von Lehrbeauftragten will sich nicht länger mit den Arbeitsbedingungen an der Uni abfinden.

27.06.2017

Von Stephan Gokeler

Symbolbild: Metz

Symbolbild: Metz

Es gärt unter den Lehrbeauftragten der Tübinger Universität, und das schon seit geraumer Zeit: Im Herbst 2014 bildete sich eine Initiativgruppe mit dem Ziel, die Arbeitsbedingungen und die Verträge für Lehrbeauftragte zu verbessern. Erreicht haben die etwa 20 Mitglieder der Initiativgruppe bisher aber trotz mehrerer Anläufe nichts.

Lehrbeauftragte sind nicht an der Uni angestellt, sondern arbeiten als selbstständige freie Mitarbeiter. Aus der ursprünglichen Idee, dass externe Gastdozenten das Lehrangebot einer Universität um einmalige Veranstaltungen erweitern oder die Chance erhalten, Berufspraxis als Dozenten zu erlangen, hat sich längst eine andere Praxis entwickelt. „40 bis 60 Leute arbeiten an der Tübinger Universität regelmäßig als Lehrbeauftragte und müssen davon ihren Lebensunterhalt bestreiten“, sagt Catherine Brillot, eine der Sprecherinnen der Initiativgruppe. Sie gäben oft mehrere Kurse parallel und hangelten sich so teilweise schon seit acht Jahren von Semester zu Semester.

Neben der Unsicherheit, ob sie auch im kommenden Semester wieder einen Auftrag erhalten, machen auch die Arbeitsbedingungen den Lehrbeauftragten zu schaffen. „Wir werden ausschließlich für die Stunden bezahlt, die wir vor den Studierenden halten“, sagt Brillot, die seit 2009 an der Eberhard-Karls-Universität ist und am Romanischen Seminar Sprachkurse gibt. In der Regel handle es sich um Lehrveranstaltungen mit zwei Stunden pro Woche, die mit durchschnittlich 33 Euro pro Stunde vergütet werden. Lehrbeauftragte kommen so auf rund 900 Euro pro Semester-Kurs. Für einen Grammatikkurs habe sie 30 unbezahlte Stunden zusätzlich gearbeitet, für einen Kurs in akademischer Schreibpraxis sogar 80 Stunden, hat Brillot ausgerechnet.

Meistens hielten sie Pflichtveranstaltungen in den betreffenden Fächern, so Brillot. Das bedeutet, dass neben der Vorbereitung auch Sprechstunden, die Korrektur von Hausarbeiten oder sogar die Mitwirkung bei mündlichen Zwischenprüfungen gefordert seien, für die es aber keinerlei Vergütung gibt. „Abgesehen von administrativen Aufgaben mache ich genau dieselbe Arbeit wie meine festangestellten Kollegen“, so Brillot. Anders als diese wird sie aber nicht monatlich bezahlt. Lehrbeauftragte erhalten ihr Honorar einmalig zum Ende des Semesters: „Manche von uns müssen Hartz IV beantragen, um an der Universität unterrichten zu können.“

Die meisten Lehrbeauftragten stammen aus dem Ausland. Sie seien „leicht auszubeuten“ und ließen sich anfangs oft „von dem Status blenden, für die Uni zu arbeiten“, meint Niles Maxwell, Lehrbeauftragter für englische Sprachpraxis. Schnell müssten sie dann aber feststellen, dass ihre Position keineswegs mit der von angestellten Universitätsmitarbeitern vergleichbar sei. Sie hätten keine Vertretung in den Gremien der Universität, auch der Personalrat ist nicht für sie zuständig. Ein Lehrauftrag führe auch nicht zu einem verbesserten Aufenthaltsstatus, weil er kein Beschäftigungsverhältnis darstellt. „Ich darf nur wegen meiner Frau hierbleiben“, berichtet der US-Amerikaner.

Mit Versuchen, in Gesprächen mit der Universitätsleitung etwas zu erreichen, ist die Initiativgruppe bislang abgeprallt. Im November 2015 übergaben Vertreter eine von 1200 Personen unterzeichnete „Petition zur Verbesserung der Situation der Lehrbeauftragten“ an den Leiter des Personaldezernats der Universität, Paul Weipert. Die damals gegebene Zusage, sich zu weiteren Gesprächen zu treffen, sei trotz mehrmaliger Anfragen nicht eingehalten worden, beklagt die Initiativgruppe. In einem dreiseitigen offenen Brief haben sie sich anfang Mai an Uni-Rektor Bernd Engler gewandt. „Die Universität hat die Ressourcen und die Mittel, dieses Problem zu lösen“, heißt es dort. Die zentrale Forderung lautet, zumindest jene Lehrbeauftragte, die seit mehreren Semestern an der Uni tätig sind und solche, die Pflichtveranstaltungen bestreiten, als Teilzeitkräfte anzustellen.

Ein geplanter Gesprächstermin der Gruppe mit dem Uni-Rektor Mitte Juli platzte. Die Initiativgruppe hatte zur Bedingung gemacht, dass die Uni-Verwaltung zu diesem Termin konkrete Schritte präsentieren müsse und schriftlich dokumentiere, welche Schritte sie in Gang bringe. Der Rektor hat daraufhin den angebotenen Termin zurückgezogen. „Eine solche Gesprächskultur ist an der Universität nicht üblich“, ließ er den Lehrbeauftragten mitteilen. Das Rektorat werde unabhängig von einem Gespräch an konkreten Lösungen arbeiten.

Fakultäten sollen Daten erheben

Lehraufträge sind für die Universität Tübingen eine wichtige Ergänzung des Lehrangebots, sagte Uni-Rektor Bernd Engler, den das TAGBLATT um eine Stellungnahme gebeten hat. Deshalb prüfe die Universität derzeit die Situation der Lehrbeauftragten. Die Fakultäten sind aufgefordert, flächendeckend Daten zu erheben.

Die Universität werde auf die Ergebnisse der Erhebung reagieren und habe das auch in der Vergangenheit getan. So seien beispielsweise im Fachsprachenzentrum neue Vollzeit-Stellen geschaffen worden – als Äquivalent für mehrere Lehraufträge. Grundsätzlich gelte jedoch, dass Lehraufträge nicht für einen Hauptverdienst ausgelegt sind. Sie sollten an Berufstätige / Experten vergeben werden, die diese Aufträge nebenberuflich wahrnehmen.

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Erstellt:
27.06.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 17sec
zuletzt aktualisiert: 27.06.2017, 01:00 Uhr

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