Hilfe für Hungerstreikende

Mahnwache: Die Wissenschaftlerin Betül Havva Yilmaz sorgt sich um inhaftierte Freunde in der Türkei

Heute ist der 169. Tag, an dem Nuriye Gülmen und Semih Özakca im Hungerstreik sind. Der Wissenschaftlerin und dem Lehrer geht es zunehmend schlechter. Sie sitzen in der Türkei im Gefängnis. Betül Havva Yilmaz ist in Tübingen und versucht, von hier aus den beiden zu helfen.

24.08.2017

Von Madeleine Wegner

Die Regierungskritikerin Betül Havva Yilmaz hat in der Türkei ihre Arbeit als Dozentin an einer Universität verloren. Bild: Sommer

Die Regierungskritikerin Betül Havva Yilmaz hat in der Türkei ihre Arbeit als Dozentin an einer Universität verloren. Bild: Sommer

Gülmen und Yilmaz haben ihren Job an der staatlichen Eskisehir-Universität nahe Ankara verloren, Özakca seinen in Mardin. In der Türkei werden sie unter der jetzigen Regierung vermutlich nie wieder eine Arbeit bekommen. „Die Regierung hat damit unser Leben kaputt gemacht“, sagt Yilmaz. Die 31-jährige Literaturwissenschaftlerin lebt seit Januar in Tübingen.

Monatelang hat sie täglich Mahnwache auf dem Holzmarkt gehalten, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Seit vier Monaten setzt sie sich für die beiden Inhaftierten ein, die mit ihrem Hungerstreik Gerechtigkeit und damit ihre Arbeit zurückfordern. Dazu haben sie in der Türkei Mahnwachen gehalten, Unterschriften gesammelt, friedlich protestiert – ohne Erfolg. 30 Mal wurden sie hingegen festgenommen. „Sie wurden geschlagen und verletzt von den Polizisten. Aber sie geben nicht auf“, berichtet Yilmaz.

„Den Hungerstreik sehen sie als letzten Ausweg“, sagt Yilmaz und fügt hinzu: „Aus der Geschichte kennt man Hungerstreik nur von Gefangenen. Und tatsächlich: Die Türkei ist heute wie ein Freiluftgefängnis.“ Es herrsche ein Klima der Angst. Seit Mai sind die Wissenschaftlerin und der Lehrer nun tatsächlich inhaftiert. Und mittlerweile liegen sie im Gefängniskrankenhaus, besonders Nuriye Gülmen sei stark abgemagert und geschwächt. Über eine Anwältin hält Yilmaz Kontakt zu ihrer Freundin. „Die Anwältin sagt, wir müssen nun jeden Tag mit dem Schlimmsten rechnen.“ Die 31-Jährige bangt um das Leben der beiden Landsleute. „Beide sagen, sie wollen nicht sterben“, sagt Yilmaz, „sie machen das nicht nur für sich, sondern für alle Beamten, die ohne Prozess suspendiert oder entlassen oder gar verhaftet worden sind. Sie klagen die Diktatur an.“

Die beiden gerieten ins Visier der Regierung, weil sie Mitglieder der oppositionellen linken Gewerkschaft sind. Yilmaz selbst wurde entlassen, weil sie sich in der türkischen Initiative „Academics for Peace“ engagiert. So wie sie sind ihren Angaben zufolge etwa 50 weitere Mitglieder der Vereinigung nach Deutschland gekommen. „Der Staat findet uns sehr gefährlich, weil wir recht haben“, sagt die Wissenschaftlerin über die Gegner des Erdogan-Regimes. Seit dem vermeintlichen Putschversuch im Sommer 2016 seien über 150 000 Beamte entlassen worden, sagt Yilmaz. „Viele von uns sind nach Deutschland geflohen. Wir brauchen Solidarität hier.“

Selbst hier fühlt sie sich nicht mehr so sicher wie bisher. Freunde hätten sie vor den eigenen Landsleuten gewarnt. Auch bei ihren Mahnwachen auf dem Holzmarkt hat sie negative Erfahrungen gemacht: Insbesondere junge Frauen mit türkischen Wurzeln hätten sie als Verräterin beschimpft.

„Ich wollte eigentlich in der Türkei bleiben“, sagt Yilmaz. Zurück kann sie nicht: Würde sie einreisen, könnte sie das Land vermutlich nicht wieder verlassen. „Ich habe alles verloren, ich muss versuchen, mir ein neues Leben aufzubauen.“ Yilmaz promoviert und pendelt dafür einmal in der Woche nach Germersheim, einer Außenstelle der Uni Mainz, die das Fach Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft anbietet. Sie habe überlegt, wegen der Promotion umzuziehen, aber dafür gefällt ihr Tübingen zu gut: „Ich fühle mich hier zuhause. Ich möchte es nicht verlassen.“

Info Jeden Samstag hält Betül Havva Yilmaz ab 13 Uhr auf dem Holzmarkt Mahnwache. Außerdem erhält sie Unterstützung von der Tübinger Initiative „Bündnis für Solidarität in der Türkei“. Ab September soll es regelmäßige Treffen geben. Weitere Infos gibt es unter www.facebook.com/TuebingerBuendnisSolidaritaet.

Zum Artikel

Erstellt:
24.08.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 40sec
zuletzt aktualisiert: 24.08.2017, 01:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter los geht's
Nachtleben, Studium und Ausbildung, Mental Health: Was für dich dabei? Willst du über News und Interessantes für junge Menschen aus der Region auf dem Laufenden bleiben? Dann bestelle unseren Newsletter los geht's!