Interview mit Ensaf Haidar

Liebe ist kein Tabu: Der inhaftierte Blogger Raif Badawi

Die Frau des inhaftierten saudischen Bloggers kämpft unermüdlich für ihren Mann. Im Interview berichtet sie, wie es ihr und ihm geht.

16.06.2017

Von Sabine Lohr

Heute vor genau fünf Jahren wurde der jetzt 33-jährige Raif Badawi in Saudi-Arabien verhaftet. Sein Vergehen: Er hat das liberale Internetforum „Freie Saudische Liberale“ gegründet, in dem Menschen ihre Gedanken austauschen konnten. Auch Badawi hat dort viel geschrieben – und dabei die Religionspolizei, den fundamentalistischen Islam und den Umgang mit Frauen kritisiert. Seine Strafe: Zehn Jahre Gefängnis, 1000 Peitschenhiebe und eine Million Saudi-Riyal (rund 250.000 Euro). Anfang 2015 wurde er öffentlich mit 50 Hieben ausgepeitscht. Danach wurde diese Strafe, die eigentlich jeden Freitag wiederholt werden sollte, vorerst ausgesetzt, weil Badawi zu schwer verletzt war. Seine 32-jährige Ehefrau Ensaf Haidar lebt mit ihren drei Kindern im Alter zwischen neun und 13 Jahren im Exil im kanadischen Sherbrooke. Dort schrieb sie ein Buch über ihre Geschichte mit Badawi, das 2015 erschienen ist. Zur Zeit ist sie auf Einladung der Tübinger Initiative für Raif Badawi zu Gast in Tübingen. Das Interview wurde mit Hilfe des Dolmetschers Ahmad Al-Latif geführt.

Frau Haidar, wie geht es Ihnen?

Es geht im Allgemeinen. Es hat sich nicht viel geändert.

Es hat sich nicht viel geändert, seit Sie das Buch geschrieben haben?

Sicherlich hat sich seither viel geändert. Ich habe die Sprache, also Französisch, besser gelernt und die Kinder sind größer geworden und haben sich auch verändert. Ich habe mehr Freunde, ich fühle mich immer heimischer in Sherbrooke. Es geht schon. Es ist besser als am Anfang. Da habe ich mich sehr fremd gefühlt.

Und wie geht es Ihrem Mann?

Es geht ihm kontinuierlich schlechter. Er verliert zunehmend die Hoffnung. Auch seine Gesundheit und seine psychische Verfassung haben sich verschlechtert. Er ist jetzt seit fünf Jahren in Haft und es ist kein Ende in Sicht.

Wie haben Sie Kontakt zu ihm?

Ich kann ihn natürlich nicht anrufen, aber er ruft mich an. Im Gefängnis gibt es zwei Telefone für 300 Leute. Der Andrang ist immer sehr groß. Wir telefonieren etwa einmal in der Woche für 10 bis 15 Minuten.

Wie sind die Haftbedingungen?

Ich kann über die Details nicht sehr viel sagen. Auch weil er selber nicht viel sagt. Wenn ich ihn frage, sagt er: Frag mich nicht. Ich will Dich fragen, wie es Dir geht und den Kindern. Frag mich nicht, wie es hier ist.

Er möchte wahrscheinlich auch nicht, dass Sie sich noch größere Sorgen machen.

Ja, das ist vielleicht ein Grund. Aber generell ist Raif kein Mensch, der sich beklagt. Er nimmt es hin, er akzeptiert es. Er will nicht jammern.

Sie schreiben in Ihrem Buch sehr offen über Ihre Ehe, Ihre Gefühle, über alles, was Sie mit Raif erlebt haben. Ist das nicht sehr ungewöhnlich für eine saudi-arabische Frau?

Als ich das Buch geschrieben habe, war ich ja in Freiheit, in Kanada. So konnte ich meine Gedanken und Gefühle frei äußern. Und Liebe ist kein Tabu, keine Straftat.

Sie bekommen sehr viel Unterstützung, auch in Tübingen. Dort macht eine Gruppe jeden Samstag eine Mahnwache für Ihren Mann. Hilft das?

Auf jeden Fall! Das ist eine sehr, sehr große Unterstützung, vor allem psychisch. Ohne Freunde, ohne Hilfe, ohne diesen Zuspruch wäre ich schon längst zerbrochen. Wenn ich alleine wäre, hätte ich die Hoffnung verloren. Und auch für Raif ist es eine große Hilfe, dass er weiß, dass die Leute an ihn denken, dass er im Gefängnis nicht von Gott und der Welt verlassen ist. Das wäre für ihn wirklich der finale Stoß. Es ist sehr wichtig, dass er weiß, dass jemand an ihn denkt und ihn unterstützt.

Es haben sich auch einige Politiker für ihn eingesetzt. Hat denn Saudi-Arabien irgendwann einmal auf den Protest reagiert?

Eine direkte Reaktion von den Behörden gab es nicht. Das Urteil ist nicht aufgehoben. Auch die Peitschenhiebe sind nicht aufgehoben. Sie wurden für eine Zeitlang ausgesetzt, wegen Raifs gesundheitlichem Zustand. Natürlich hilft es viel, wenn sich Politiker einsetzen. Die deutsche Regierung hat sich eingesetzt. Sigmar Gabriel hat sich persönlich engagiert und mich auch persönlich angerufen und E-Mails geschickt. Das ist natürlich eine sehr große Unterstützung. Ich hoffe, dass es so weitergeht. Vielleicht gibt es dann einmal irgendeine Reaktion von den saudischen Behörden.

Sie haben sehr lange Ihren Kindern nichts erzählt, auch weil Ihr Mann das nicht wollte. Inzwischen wissen sie es. Ihr Buch endet damit, dass die Kinder anfangen, Sie in ihrem Kampf für Ihren Mann zu unterstützen. Wie ist es denn heute?

Ich wollte das so lange vor ihnen verheimlichen, wie es geht, weil sie noch so klein sind, die Dinge nicht einordnen und es nicht verstehen können. Es wäre für sie eine Belastung. Aber irgendwann wurden ihre Fragen und Nachfragen hartnäckig. Sie haben immer gefragt: Wo bleibt er? Ich habe gesagt, er sei bei der Arbeit. Und sie sagten, das könne nicht sein – drei Jahre bei der Arbeit. Ist die Arbeit wichtiger als wir? Liebt er uns nicht? Irgendwann war es dann so weit. Die Sache kam in der Presse, im Fernsehen, überall. Sie hätten es mitbekommen, Sie wissen ja, wie ihr Vater heißt. Ich wollte nicht, dass sie es so erfahren und dem zuvorkommen. Es ihnen irgendwie nahe bringen und erklären auf eine Weise, damit sie nicht so geschockt sind. Dann habe ich ihnen genau erklärt, was los ist.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Haidar. Sie trinken gerade Wasser – machen Sie denn keinen Ramadan?

(Haidar lacht) Nein. Ich habe in Saudi-Arabien lange genug Ramadan gemacht. Das reicht.

Die Initiative lädt ein

Am Freitagabend liest Ensaf Haidar auf Einladung der Buchhandlung Osiander von 20 Uhr an im Kino Museum, Obere Säle, aus ihrem Buch „Freiheit für Raif Badawi, die Liebe meines Lebens“. Die Veranstaltung ist in deutscher und französischer Sprache. Neben Haidar liest Franziska Beyer vom LTT Auszüge. Moderator ist Christopher Gohl. Karten unter Telefon 0 70 71 / 9 20 11 29.

Am Samstag spricht Ensaf Haidar bei der Mahnwache „Freiheit statt Folter für Raif Badawi“, die um 11 Uhr an der Stiftskirche beginnt und dieses Mal mit mehreren Reden größer ausfällt als bisher.

Die Tübinger Initiative für Raif Badawi lädt außerdem auf Samstag, 19 Uhr, zu einer Podiumsdiskussion unter anderem mit Can Dündar, dem ehemaligen Chefredakteur der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet. Titel des Podiums: „Unter dem Druck des extremen politischen Islam: Pressefreiheit in Nahost“. Beginn ist um 19 Uhr im Kino Museum (Kino 1), wo es auch Karten gibt.

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Erstellt:
16.06.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 19sec
zuletzt aktualisiert: 16.06.2017, 01:00 Uhr

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