Lotte Reiniger schrieb Jahre vor Disney Trickfilm-Geschichte

Leben zwischen Licht und Schatten

Die Künstlerin Lotte Reiniger, die ihren Lebensabend im Kreis Tübingen verbracht hat, begeistert bis heute mit ihren Filmen, Animationen und Illustrationen.

03.09.2016

Von Madeleine Wegner

Szene aus dem Trickfilm „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“.

Szene aus dem Trickfilm „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“.

Schon zehn Jahre vor Disneys erstem Langfilm „Schneewittchen“ gestaltete Lotte Reiniger in den 1920er-Jahren den ersten abendfüllenden Trickfilm der Filmgeschichte: „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“. Mit Hilfe von Licht und Schatten nahm Reiniger die Zuschauer mit auf eine Reise zu Abenteuern im Dämonenreich und auf Zauberinseln, zu Drachen und Hexen, zum Kaiser von China und schließlich bis in den Palast eines freundlichen Kalifen.

Mit ihren Silhouettenfilmen tauchte Reiniger in Märchenwelten ein und bot den Zuschauern aufwendige, detailverliebte Phantasie-Reisen. Doch die Künstlerin war auch selbst bis ins hohe Alter viel unterwegs. Sie bereiste Ägypten, Griechenland und Frankreich, sie lebte längere Zeit in London und Italien, sie hielt Vorträge unter anderem in der Türkei, in Kanada und in den USA. „Die haben mich hier sehr freundlich aufgenommen und ich bin geblieben“, sagte Reiniger im Rückblick auf ihre Übersiedlung nach England. „Mit nichts als zehn Mark in der Tasche“ sei sie damals nach London gekommen. Wegen der Verfolgung ihrer Freunde, zunehmenden Drucks und fehlender finanzieller Unterstützung wanderte Reiniger zusammen mit ihrem Mann, dem Filmemacher Carl Koch, nach London aus.

Zunächst wollte Reiniger nur wegen einer Ausstellung ihrer Werke in Bristol Ende 1935 nach England reisen. Mit ihren Scherenschnitt-Figuren beeindruckte sie die Verantwortlichen des Victoria-and-Albert-Museums aber so, dass eine weitere Ausstellung in London folgte. In der Eröffnungsrede dazu wies Eric Walter White darauf hin, dass „Lotte Reiniger die geniale Idee hatte, die Silhouette – beziehungsweise den Scherenschnitt – von ihrem üblen Ruf zu befreien, den sie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bekommen hatte, sie wieder zu beleben und sie „zur Würde einer neuen Kunstform zu erheben“.

In Deutschland waren Reinigers Filme damals kaum noch gespielt worden, sie geriet politisch wie wirtschaftlich unter Druck. In England jedoch erhielt die Künstlerin von vielen Seiten große Beachtung.

Da sie dort aber keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung bekam, war Reiniger zunächst zum Reisen gezwungen: Es wurden turbulente Jahre. 1936 zog es sie nach Griechenland: „Ich hörte von der Beliebtheit der Schattenspiele in Griechenland, während ich an einem Silhouettenfilm arbeitete und ich wurde darauf eifersüchtig, weil ich immer Auseinandersetzungen mit den Filmverleihern hatte.“ Da sie unbedingt ein solches populäres Schattenspiel erleben wollte, unternahm sie „eine Pilgerfahrt nach Athen“. Sie reiste über Berlin, Prag, Wien, Salzburg und Venedig bis nach Athen, um den berühmtesten griechischen Schattenspieler Mollas zu sehen. Die Stücke führte Mollas in einem Straßen-Café unter freiem Himmel und vor begeistertem Publikum auf – darunter auch Reiniger, die daraufhin an ihren Mann schrieb: „Ich bin doch ein Puppenspieler. Das ist eines der erfreulichsten Resultate dieser Expedition. Ich bin unendlich glücklich hier.“ Die Erfahrungen haben auch später noch Einfluss auf ihr eigenes Schattenspiel. 20 Jahre nach ihrem Besuch übernahm Reiniger die Technik Mollas‘, der die Figuren mit horizontalen Stäben führte – und revolutionierte auch damit das Schattenspiel im westeuropäischen Raum.

Reiniger war damals Teil eines Künstler-Freundeskreises. Sie war mit Bertolt Brecht und Kurt Weill bekannt, mit denen sie und ihr Mann 1928 vor der Uraufführung der Dreigroschenoper nach Südfrankreich reisen. Bereits ein Jahr zuvor waren Reiniger und Koch mit dem Bankier und Mäzen Louis Hagen, der den Film „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ finanziert hatte, und mit dessen Frau für drei Monate in Ägypten.

Zu Reinigers Freundeskreis zählt auch der Fotograf und Kameramann Henri Cartier Bresson sowie der Regisseur Jean Renoir. Dieser hatte Koch 1937 von London nach Paris geholt. Wenige Tage nach seiner Ankunft dort schreibt Carl Koch stolz an seine Frau: „In der Tat: Du bist hier eine der wenigen anerkannten Größen.“ Über zwei Jahre lebt das Paar räumlich getrennt. Ihr Leben spielt sich zwischen Paris und London ab. „Es war eine wunderbare Zeit und ich arbeitete hier und wenn es mir zu langweilig wurde, fuhr ich 14 Tage nach Paris“, erinnerte sich Reiniger. Für Renoir drehte sie in Paris unter anderem eine Schattentheaterszene, kehrte jedoch im Anschluss wieder nach London zurück.

Nach dem Überfall Hitlers auf Polen reiste Reiniger über Paris und Nizza nach Rom zu ihrem Mann, der zu der Zeit dort mit Renoir an „La Tosca“ arbeitete. Es gelang ihr, in einem der wenigen noch zwischen Frankreich und Italien fahrenden Züge einen Platz zu bekommen. Das Paar blieb. Erst als deutsche Truppen Rom besetzten, fuhren sie weiter nach Venedig und kehrten erst am Weihnachtsmorgen 1943 nach Deutschland zurück – zum ersten Mal nach acht Jahren.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges siedelte Reiniger 1949 wieder nach London über. Ursprünglich hatte sie Deutschland nicht endgültig verlassen wollen. „Aber dann fand ich es viel angenehmer hier“, sagte sie später. Damit es dieses Mal mit der Aufenthaltserlaubnis klappte, brauchte sie dringend Verdienstnachweise. Sie erhielt einen Auftrag zu Buch-Illustrationen: „King Arthur“, die Sage von König Artus für junge Leser erzählt, ist im englischsprachigen Raum heute noch als Taschenbuch mit den Arbeiten Lotte Reinigers erhältlich.

Das Unterwegssein blieb stets ein wichtiger Teil in Lotte Reinigers Leben. Auch nach dem Tod ihres Mannes 1963 reiste sie durch die Welt, vor allem um Vorträge zu halten und Workshops anzubieten. „Wir sind immer wieder erstaunt, welche Bekanntheit sie im Ausland hat“, sagt Dr. Evamarie Blattner, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Tübinger Stadtmuseum. Blattner hat die weltgrößte Ausstellung zu Reinigers Arbeit zusammengestellt. „Sie ist in der Welt bekannter als hier in Tübingen“, sagt sie. In Tübingen befindet sich der Nachlass Reinigers, nachdem die Künstlerin 1981 in Dettenhausen (Kreis Tübingen) gestorben war. Heute besuchen besonders viele Gäste aus dem Ausland die Ausstellung. „Bei Film- und Kunstkennern hat sie einen ganz großen Namen“, sagt Blattner.

1972 wurde Reiniger auf den 22. internationalen Filmfestspielen in Berlin mit einem Ehrenpreis ausgezeichnet

1972 wurde Reiniger auf den 22. internationalen Filmfestspielen in Berlin mit einem Ehrenpreis ausgezeichnet

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Erstellt:
03.09.2016, 22:37 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 57sec
zuletzt aktualisiert: 03.09.2016, 22:37 Uhr

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