Mieterprotest · Hier geht nur noch die Treppe

In der Haußerstraße 146 müssen die Bewohner seit Wochen ohne Aufzug bis in den 7. Stock kommen

Vor kurzem wurde ein Kühlschrank in den sechsten Stock geschleppt, zwei kräftige Männer wechselten sich ab. Ein junger Mann will aus dem siebten Stock ausziehen, seine Möbel warten immer noch darauf, gepackt zu werden. Eine gehbehinderte Frau kommt seit Wochen nicht mehr aus dem Haus.

18.08.2017

Von Ulla Steuernagel

Der Aufzug funktioniert nicht, darauf ist Verlass. Die Mieter der Haußerstraße 146 wollen sich das nicht länger bieten lassen. Von links: Vera und Nicolas Lindner, Ugur Kurtulmus, Sonja Naszaly, Hans-Joachim Frey, Paulina und Alaya Kurtulmus, Kibra Semere und Tülay Frey.Bild: Steuernagel

Der Aufzug funktioniert nicht, darauf ist Verlass. Die Mieter der Haußerstraße 146 wollen sich das nicht länger bieten lassen. Von links: Vera und Nicolas Lindner, Ugur Kurtulmus, Sonja Naszaly, Hans-Joachim Frey, Paulina und Alaya Kurtulmus, Kibra Semere und Tülay Frey.Bild: Steuernagel

Wer seine Wäsche im Keller wäscht, sollte nicht vor Ende des letzten Schleudergangs kommen, sonst muss man ein weiteres Mal treppauf treppab laufen. „Tragen Sie mal eine Sprudelkiste sieben Stockwerke hoch“, sagt Sonja Naszaly – und das, wenn man, wie sie, einen Leistenbruch hatte.

Die Bewohner der Haußerstraße 146 sprudeln über vor Geschichten, die sie in den letzten Wochen und Monaten erlebt haben. Auf der Treppe spielen sich denkwürdige Szenen ab. Da humpelt eine Frau mit einer Krücke die Treppe hoch, unterm anderen Arm klemmt der Korb mit der nassen Wäsche. 128 Stufen liegen zwischen der Waschmaschine und dem obersten, dem siebten Stockwerk. Auch der Abfall muss die vielen Stufen heruntergetragen werden. Sonja Naszaly sagt in einer Mischung aus Zorn und Spaß: „Ich werf ihn demnächst einfach zum Balkon runter.“

Vera Lindner kommt manchmal von der Nachtschicht aus dem Klinikum nach Hause, muss sich auf halber Strecke in ihre hochgelegene Wohnung setzen und erst einmal verschnaufen. Im Haus gibt es Herzkranke, es gibt Asthmatiker, und es gibt kleine Kinder, die getragen werden müssen, kaum einer der Mieter kommt derzeit komplikationslos in seine Wohnung.

83 Bewohner verteilen sich auf 24 Wohneinheiten, und fast alle sind sauer. Hätten sie die Möglichkeit, ihrem Vermieter zu kündigen, sie hätten es längst getan. Aber die Rollen sind hier anders verteilt, die Bewohner des Hauses sind nämlich eine Art Handelsware. 2012 verkaufte die LBBW die Hochhäuser in der Haußerstraße an die Patrizia/ Südewo, die stieß sie dann ein Jahr später mit sattem Gewinn an die Vonovia SE ab.

Der Aufzug in dem siebenstöckigen Haus ist seit fast zwei Monaten kaputt. Die Mieter haben in den letzten Wochen genau Buch geführt: vom 27. bis zum 31. Mai, vom 17. bis 26. Juni, vom 5. Juli bis 10. Juli und vom 18. Juli bis zum heutigen Tag. Sie haben nicht nur Buch geführt, sie haben die Hotline zur Vonovia heiß laufen lassen. Doch niemand von ihnen drang über die Callcenter-Mitarbeiter hinaus. Der Schaden wurde aufgenommen, mitunter auch gesagt, der Reparatur-Auftrag sei erteilt. Fünfzehn Mal kamen Monteure ins Haus, der Aufzug blieb defekt. Mittlerweile sei die Firma Kone für ihn zuständig, sie habe aber nicht das Knowhow und die Ersatzteile des Vorgängers Brobeil. „Brobeil muss Kone ein Angebot machen und das wiederum muss Vonovia absegnen.“

Ugur Kurtulmus aus dem fünften Stock ist jetzt zum Rechtsanwalt gegangen, er hat dem Wohnungseigentümer mit Mietminderung gedroht. Null Reaktion. Sonja Naszaly sucht sich nun ebenfalls juristische Schützenhilfe: „Mir ist jetzt der Kragen geplatzt!“

In ihrer Wohnung haben sich zum Pressetermin zehn Mieterinnen und Mieter zusammengefunden, alle sind erbost, alle fühlen sich von der Vonovia SE nur noch hingehalten und verschaukelt. Einer berichtet, dass er in den vergangenen Monaten fünf Mal Liftbenutzer aus der Klemme retten musste. Denn der Aufzug leide an einem Haarriss an einer Platine und funktionierte deshalb nicht. Die dreijährige Alaya steckte einmal eine dreiviertel Stunde in dem geschlossenen Kasten fest.

Die gehbehinderte Kibra Semere wohnt zwar im ersten Stock, aber zu Fuß kann sie die acht Stufen bis zum Ausgang mit ihren zwei Krücken nur rückwärts bewältigen. Aufwärts geht gar nichts. Seit Wochen ist sie in ihrer Wohnung gefangen. Einmal saß auch sie im Aufzug fest. Sie musste ihren Mann Kubrom Bekure anrufen, der dann von seiner Arbeitsstelle im Klinikum den Hausmeister alarmierte. Auf den Notruf im Aufzug selber: null Reaktion.

Im benachbarten Vonovia-Haus waren die Aufzugsbefreiungen durch den Sicherheitsdienst den Mietern am Jahresende als „Betriebskosten“ berechnet worden. Auch diese Nachricht bringt die Mieter auf 180, aber ins siebte Stockwerk bringt sie sie nicht.

Der größte private Vermieter in Deutschland

Die Vonovia SE (2001 als Deutsche Annington Immobilien AG gegründet) ist mit rund 400 000 eigenen und fremdverwalteten Wohnungen mittlerweile das größte börsennotierte Wohnungsunternehmen und der größte private Vermieter Deutschlands.

Vonovia kauft Immobilien mit vergleichsweise geringem Eigenkapitaleinsatz. Günstiges Fremdkapital und sichere Mieteinnahmen sichern die Refinanzierung der Käufe.

Unternehmenssitz ist Düsseldorf, die Hauptverwaltung befindet sich in Bochum.

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Erstellt:
18.08.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 05sec
zuletzt aktualisiert: 18.08.2017, 01:00 Uhr

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