Archäologie · Brechesdorf taucht wieder auf

In Kilchberg wird eine Wüstung aus dem Mittelalter freigelegt · Funde und Erkenntnisse

Überall, wo die Oberfläche dunkel verfärbt ist, schaut Grabungsleiter Ralf Keller ganz genau hin. Das sind die Stellen, die der Wurmlinger bereits durch das Drohnenbild gesehen und nun mit seinem Team pink markiert hat.

20.06.2017

Von Moritz Hagemann und Marie Heßlinger

Grabungsleiter Ralf Keller (vorne) zeigt eine Pfostengrube, die anhand der dunklen Färbung deutlich wird, und die dazugehörigen Keilsteine. Dahinter arbeitet Archäologin Dorothea Steinmaier am Querschnitt des freigelegten Ofens. Im Hintergrund sind die pinken Markierungen zu sehen, die auf Funde hindeuten, die noch ausgegraben werden müssen. Bilder: Sommer

Grabungsleiter Ralf Keller (vorne) zeigt eine Pfostengrube, die anhand der dunklen Färbung deutlich wird, und die dazugehörigen Keilsteine. Dahinter arbeitet Archäologin Dorothea Steinmaier am Querschnitt des freigelegten Ofens. Im Hintergrund sind die pinken Markierungen zu sehen, die auf Funde hindeuten, die noch ausgegraben werden müssen. Bilder: Sommer

Die Szenerie erinnert an einen Kriminalfilm, bei dem die Spurensicherung den Tatort fein säuberlich absteckt: Nummern stecken im Boden, jeder Schritt wird genaustens dokumentiert. „Unsere Arbeit ist eine stetige Abwechslung zwischen Grabung und Dokumentation“, sagt Keller.

Im 14. Jahrhundert verschwunden

Tauchen dunkle Flächen auf, wittern die Archäologen einen Fund. Denn: „Es gibt nichts Dauerhafteres als ein Loch im Boden“, spricht Keller „ein altes Archäologen-Sprichwort“ aus. Diese Stellen werden vor der Ausgrabung mit Wasser besprüht, damit die trockene Oberfläche nicht zu rissig wird; damit saubere Querschnitte möglich sind, um nachzuvollziehen, was im 1800 Quadratmeter großen Grabungsfeld an den Bahnschienen einst vorsich gegangen ist.

Aus den ältesten bekannten Urkunden geht hervor, dass die Wüstung Brechesdorf existierte. Im 14. Jahrhundert verschwand sie. Was blieb, ist der Brechesdorfer Weg, ganz in der Nähe des Grabungsfeldes im Osten Kilchbergs. „Man vermutet, dass es eine Ableitung vom Personennamen Brecht ist“, sagt Beate Schmid vom Landesamt der Denkmalpflege. Sie schätzt die Wüstung anhand der ersten Funde in die Jahre von 1100 bis 1350, also ins Hoch- bis Spätmittelalter. „Aber es gibt einige Anzeichen, dass das Gebiet in der Vorgeschichte nicht unbesiedelt war“, ergänzt Keller.

Seit Mitte Mai läuft die Ausgrabung, die im Zuge der Gasleitungsverlegung im Baufeld der neuen B 28 geplant war. Zunächst wurde eine Humusschicht abgetragen, besonders tief unter der Erde müsse sein Team gar nicht graben, sagt Keller, um Erkenntnisse zu gewinnen. Es lasse sich bereits feststellen, „dass das Gelände nicht so eben war, wie wir es heute kennen.“ Noch immer sind Wagenspuren von damals sichtbar, eine freigelegte Kiesfläche lässt auf einen Weg schließen, der mit der Zeit verbreitert wurde. Der Fund einiger Hufeisen bezeugt, dass Wagen und Pferde dort unterwegs gewesen sein müssen. Die Hufeisen liegen nun gesammelt in einem kleinen Baucontainer neben dem Grabungsfeld, das etwa 200 Meter vom Kilchberger Bahnhof entfernt liegt. Jedes Teil, egal wie groß, ist einzeln in einer Plastiktüte verpackt und detailliert beschriftet.

Ein paar Meter neben den Kiesspuren deutet eine dunkle Fläche, die etwa einen halben Meter in den Boden hineinragt, auf eine Pfostengrube hin. „Pfostengruben haben wir etliche in dieser Wüstung“, sagt Keller. Die Spuren an dieser Grube weisen durch die dunkle Verfärbung auf vergangene Holzreste hin und bestätigen „eine im Mittelalter gebräuchliche Technik“ (Keller) beim Hausbau – auch, weil drumherum Keilsteine freigelegt worden sind. „Daran kann man die Geschichte der Grube ablesen“, erklärt der Grabungsleiter.

Sandsteine umringen einen freigelegten Ofen direkt dahinter, „durch das Feuer sind sie sehr bröselig geworden“, sagt Keller, der auf die rötlichen Färbungen im Lehm hinweist. Indizien, wofür der Ofen benutzt worden ist, gibt es bislang nicht. Vermutungen aber schon: vom Brot backen, über das Räuchern, bis hin zum Schmelzen von Metall. Das Problem der Archäologen: Die ursprüngliche Oberfläche ist nicht mehr rekonstruierbar.

Unter „großflächigen, dunklen Verfärbungen, die sich schon im Luftbild abgezeichnet haben“, vermuten die Experten Grubenhäuser, die oftmals in den Boden eingegraben und nur noch mit einem Dach bestückt worden sind. Dementsprechend feucht und kühl waren sie, was für die Flachsverarbeitung gut war. Denn die Grubenhäuser haben „oft zur Webarbeit, teils auch als Vorratskammern gedient“, sagt Keller, während er einen Plan in den Händen hält, der alle Verfärbungen der Oberfläche mit Zahlen genauestens dokumentiert.

Mit Überraschungen muss Kellers Team von der Firma Fodilus immer rechnen, „das ist normal“, sagt der Grabungsleiter. So ist beispielsweise ein großes Keramikgefäß mit Deckschale aufgetaucht: „Schon anhand der Keramik war klar, dass das nicht zum Mittelalter passt.“ Der Inhalt gibt genauere Aufschlüsse: weiße, verbrannte Knochenspuren, die gepaart mit dem Gefäß auf die Urnenfelderkultur (etwa 1300 bis 800 vor Christus) hindeuten. Dass das Gebiet schon vor dem Mittelalter besiedelt war, lassen auch diverse gefundene Scherben vermuten, die Keller „das tägliche Brot der Archäologie“ nennt. Eine Scherbe, etwa so groß wie ein Tischtennisball, ordnet er der Bronzezeit zu.

Mit großer Begeisterung demonstriert Keller, dass sich einige Scherbenteile sogar noch zusammensetzen lassen. Und ein Kochgefäß ergeben – sogar mit Karniesrand, einem Hinweis auf das Spätmittelalter und einem Berechnungsindikator für den Durchmesser des Gefäßes. Er sei schon gespannt, was sich noch alles unter der Erde verbirgt, sagt Keller.

Ein großer Bereich der Grabungsfläche ist noch von Planen bedeckt, die den Boden vor Austrocknung schützen sollen. „Der Boden ist ungünstig“, urteilt der Grabungsleiter. Die erwartete Hitzewelle in den kommenden Tagen auch, weil der Untergrund weiter austrocknet. Das Team versucht die Flächen auch durch aufgestellte Zelte zu schützen. Erst ein kleiner Teil der Wüstung wurde freigelegt, bis September sollen die Arbeiten andauern.

Projektleiter Edwin Kuhn vom Tübinger Regierungspräsidium schätzt die Gesamtkosten auf 150 000 bis 200 000 Euro, „aber man kann da nichts kalkulieren“, sagt er. Es komme immer darauf an, was Kellers Team findet und wie viele Stunden für die Arbeitskräfte zusammenkommen. Momentan sind sechs Beschäftigte im Grabungsfeld aktiv, die Kosten übernimmt der Bund als Baustellenträger. Das Denkmalschutzgesetz verpflichtet zu den Ausgrabungen.

Alle Funde werden datiert, beschriftet, gewaschen und aufbereitet. Wenn die Arbeit von Kellers Team getan ist, landen die Zeitzeugnisse im zentralen Fundarchiv des Landesdenkmalamtes in Rastatt.

Im Schotter eines freigelegten Weges fanden die Archäologen zahlreiche Hufeisen, hier steckt sogar noch der Hufnagel drin. Ein Zeichen, dass Wagen und Pferde in Brechesdorf genutzt worden sind. Bilder: Sommer

Im Schotter eines freigelegten Weges fanden die Archäologen zahlreiche Hufeisen, hier steckt sogar noch der Hufnagel drin. Ein Zeichen, dass Wagen und Pferde in Brechesdorf genutzt worden sind. Bilder: Sommer