Vom ersten Arbeitstag an war er organisiert

IG-Metall-Sekretär Harry Mischke geht in den Ruhestand

Mit 15 trat er in die Gewerkschaft ein, bis heute war er einer ihrer engagiertesten Kämpfer für die Rechte der Arbeitnehmer. Als Betriebsrat setzte Harry Mischke eine 15-prozentige Lohnerhöhung für die Belegschaft durch – und rettete mit seinen Kollegen einen Betrieb.

27.07.2017

Von Thomas de Marco

Hat jetzt viel Zeit für sein Hobby Rockmusik: Gewerkschaftssekretär Harry Mischke geht in den Ruhestand.Bild: Haas

Hat jetzt viel Zeit für sein Hobby Rockmusik: Gewerkschaftssekretär Harry Mischke geht in den Ruhestand.Bild: Haas

Der junge Harry Mischke ist gerade mal 15 Jahre alt – und verblüfft gleich am allerersten Arbeitstag bei der Landmaschinenfirma Claas in Saulgau den Betriebsratschef: Denn der Auszubildende will sofort in die IG Metall eintreten. Fasziniert von Willy Brandt, politisiert durch einen in Tübingen studierenden Nachbarsjungen sowie durch den Vater, der als Ziegelarbeiter schon immer SPD gewählt hat, und durch sein Lieblingsfach Gemeinschaftskunde, wird der Jugendliche aus dem oberschwäbischen Mengen von der Gewerkschaft magisch angezogen.

1979 wird Mischke, heute 61 Jahre alt, selbst Betriebsrat bei Claas. Sechs Jahre später verändert der Streik für die 35-Stunden-Woche sein Leben grundlegend: Die IG Metall Reutlingen-Tübingen holt ihn 1984 als Streikhelfer nach Reutlingen zu Bosch. Sechs Wochen lang dauert dieser Ausstand. „Die Stadt und die Arbeit haben mir gleich gefallen“, erinnert sich Mischke.

Als Vorzeige-Prolet in Griechenland

Vor allem hat es ihm auch eine angehende Lehrerin angetan. Die überredet ihn, nach Reutlingen zu ziehen. Mischke stellt sich bei Still-Wagner in Mittelstadt vor, wo ein Schweißer gesucht wird. Er muss sein Können beim Probeschweißen beweisen – und die Firma will ihn gleich am nächsten Tag einstellen. Doch der junge Mann möchte mit seiner Referendarin und dem Marxistischen Studentenbund unbedingt noch für sechs Wochen nach Griechenland. „Dort war ich der Vorzeige-Prolet im Camp!“

15 Prozent mehr Lohn für die Belegschaft

Bei Still-Wagner wird Mischke 1987 freigestellter Betriebsrat und zwei Jahre später Vorsitzender des Gremiums. Den Organisationsgrad der IG Metall in der von ihr als „Problembetrieb“ eingestuften Firma, in der zuvor die christliche Metallgewerkschaft das Sagen hatte, steigert er auf 85 Prozent. Ausschlaggebend dafür ist, dass Mischke eine Prämienlohnvereinbarung aushandelt, die den gewerblichen Mitarbeitern eine Lohnerhöhung von 15 Prozent bescherte. „Es war die beste Vereinbarung in ganz Baden-Württemberg“, sagt er stolz, wenn er an diesen Tag zurückdenkt – einen seiner schönsten.

Einen zweiten, vielleicht den allerschönsten, und mit starken Emotionen besetzten Tag erlebte er im Jahr 2008: Inzwischen Still-Wagner-Kion, sollte das Unternehmen in Mittelstadt „platt gemacht“ werden“ – zum dritten Mal innerhalb von 15 Jahren. Dass die Firma heute noch besteht und wieder rund 300 Mitarbeiter hat, ist Mischke und der IG Metall zu verdanken.

Die Abmahnung als Ehrenurkunde

Innerhalb von zwei Tagen organisierten sie einen „Ausflug“ in die Wiesbadener Konzernzentrale, wohin trotz angedrohter Abmahnungen alle 400 Beschäftigen mitfuhren. „Das war irre! Wir haben dort eine Kundgebung abgehalten. Und die Aktion hat uns zusammengeschmiedet“, blickt der Gewerkschaftssekretär zurück. Die Abmahnungen wurden später eingerahmt und wie Urkunden am Arbeitsplatz aufgehängt.

2010 wechselt Mischke hauptberuflich zur IG Metall. „Die ersten zwei Jahre waren schwierig für einen, der vorher ständig in einem Betrieb gearbeitet hat“, erinnert er sich. „In der Firma steht die Belegschaft immer hinter einem.“ Seine Hauptaufgabe bei der IG Metall ist die Gründung von Betriebsräten. Über 20 Male ist ihm das gelungen, unter anderem bei Somfy in Rottenburg, sagt er.

Früher war die Gewerkschaft politischer

Was hat sich verändert in all der Zeit, in der Mischke gewerkschaftlich tätig war? „In den 1970er-Jahren haben wir uns politisch mehr eingemischt“, sagt er und erinnert an Aktionen zum Militärputsch in Chile oder zur Solidarität mit Nicaragua. Ab den 1990er-Jahren sei dann der Kampf um Arbeitsplätze in den Vordergrund gerückt. „Das ist ein ganz hohes Gut. Da ist die Gewerkschaftsarbeit aber auch härter geworden.“ Doch weiterhin sei es eine ihrer Hauptaufgaben, einen gerechten Lohn herauszuholen.

Den Standort Deutschland sieht Mischke nicht schlecht aufgestellt. „Wir haben durchaus verantwortungsvolle Geschäftsführungen, die seriös mit den Betriebsräten zusammenarbeiten“, sagt er. Die Gewerkschaften hätten aber in den 1970er-Jahren in der Bevölkerung ein anderes Ansehen gehabt: „Die Leute sind damals selbstverständlich eingetreten. Das ist heute nicht mehr so, weil die Menschen auch nicht mehr so gut Bescheid wissen.“

Deshalb fordert der scheidende Funktionär der IG Metall und frühere DGB-Kreisvorsitzende, dass die Jugendlichen in den Schulen mehr darüber erfahren sollten. „Vieles, was heute im Arbeitsleben normal ist, musste erkämpft werden. Etwa 1956 die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durch einen 16-wöchigen Arbeitskampf.“ Ein Jahr, bevor Harry Mischke geboren wurde. Am heutigen Freitag wird er von der IG Metall in den Ruhestand verabschiedet.

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Erstellt:
27.07.2017, 19:48 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 10sec
zuletzt aktualisiert: 27.07.2017, 19:48 Uhr

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